Heimweh
Ein deutsches Vertriebenen-Schicksal
Am 21. November 1912 wird
Kurt Krowinnus in Kaukehmen unweit von Tilsit
(heute Sowjetsk) geboren. Ein gnädiges Schicksal
erspart seinem Heimatdorf, bereits nach dem 1.
Weltkrieg von Litauen annektiert zu werden. Die
Nachbardörfer wenige Kilometer nördlich, auf der
anderen Seite der Memel, werden litauisch und
kehren erst 1939 nach schweren Jahren der
Unfreiheit in den Ring des Reiches zurück. So
darf Kurt Krowinnus eine unbeschwerte Jugend in
Ostpreußen verleben.1945 macht das grausame
Schicksal der Vertreibung auch vor seiner
Familie nicht halt. Zusammen mit seinen Eltern
und fünf Geschwister muss er Ostpreußen für
immer verlassen. In Schleswig-Holstein findet er
eine neue Heimat und baut sich eine selbständige
Existenz auf; er heiratet und steht doch am Ende
seines langen Lebens – seine Frau ist schon
lange tot – einsam und alleine in dieser Welt,
die die Fernsternliebe predigt und dabei die
Nächstenliebe vergisst. Auf einem uralten
Wohnboot lebt er mutterseelenallein auf dem
Liegeplatz „Lexfährte“ an der Eider, einem
kleinen Fluß in Schleswig-Holstein.
Hier wäre die
Lebensgeschichte von Kurt Krowinnus
wahrscheinlich 1996 wie eine langsam
verlöschende Kerze still zuende gegangen, wenn
nicht eine unbändige Sehnsucht nach seiner
ostpreußischen Heimat den inzwischen
vierundachtzigjährigen alten Herrn erfasst
hatte.
Im Spätsommer 1996 verschwindet er mit seinem Wohnboot von seinem Liegeplatz. Einige Wochen
später wird er von der Wasserschutzpolizei
Neustadt/Holstein, einem kleinen Ostseehafen, an
die Kette gelegt. Gleich zweimal ist er auf dem
Weg bis Neustadt an der Ostküste auf Grund
gelaufen und musste freigeschleppt werden.
Dann hat ihn die
Wasserschutzpolizei mit seinem seeuntüchtigen
Boot nach Neustadt gebracht und festgesetzt.
Kurt Krowinnus protestiert leidenschaftlich: er
wollte nach Ostpreußen fahren, um dort zu
sterben.
Die Urgewalt dieser
Sehnsucht, die in unserer entseelten Welt laut
an unser Gewissen pocht und an alte, fast
vergessene Mythen erinnert, ist stärker als alle
Ketten unserer irdischen Welt. Nachts hat
dieser ostpreußische Dickschädel die amtliche
Kette geknackt und ist verschwunden. Die
Wasserschutzpolizei sorgt sich, wer nun die
Rechnung für das Freischleppen des alten Kahns
bezahlen wird. Wir sorgen uns, was aus Kurt
Krowinnus werden wird, denn in den folgenden
Tagen herrscht Starkwind. Wird er auf seiner
Reise zurück zu den Wurzeln in der Ostsee ein
nasses Grab finden? Und bis nach Ostpreußen wird
er es mit dem alten Kahn kaum schaffen!
IIm Oktober findet sich seine Spur auf Rügen
wieder. Kurt Krowinnus ist dort gestrandet, das
Boot ist zerstört und liegt am Strand. Doch der
alte Mann will immer noch weiter nach Hause,
nach Ostpreußen. Es gelingt ihm, das Bootswrack
an einen Mann auf Rügen zu verkaufen. Der Preis:
eine Fahrkarte nach Königsberg!
Man würde ihn gerne festhalten auf Rügen, denn
etwas sonderbar ist der alte Herr schon. Aber
da nichts gegen ihn vorliegt, muss man ihn wohl
oder übel freilassen – und weg ist er wieder.
Tja, und nun hat er es
fast geschafft.
Statt in Königsberg ist er
im Memelland gelandet, und Litauens größte
Tageszeitung „Lietuvos Rytas“ berichtet im
Dezember 1996 auf der Titelseite über diesen
Mann, dessen heimatliebe ganz Litauen zu Tränen
rührt.
Ein Litauischer
Unternehmer, Saulius Stankevicius aus
Heydekrug, tut nun mehr für unser altes
Ostpreußen, als einfache Nächstenliebe gebietet.
Mit großem Respekt und Ehrfurcht vor dem „alten
weisen Mann“ erzählt er das Ende der Geschichte:
Als Krowinnus die Rechnung in einem Heydekruger
Hotel nicht bezahlen kann, weil die
Landesversicherungsanstalt (LVA)
Schleswig-Holstein seine Rente nicht überweist,
besorgt Saulius Stankevicius für ihn eine
kleine Wohnung und besucht ihn dort fast
täglich. Er beschreibt Herrn Krowinnus als
hellwachen, klugen und lebenserfahrenen
Gesprächpartner.
Im März gelingt es
Herrn Stankevicius endlich, das heißersehnte
russische Visum für Kurt Krowinnus zu besorgen.
Jetzt kann er auf die andere Seite der Memel
fahren, noch einmal sein Heimatdorf sehen – und
sterben.
Unglaublich, dass Kurt
Krowinnus es tatsächlich geschafft hat. Was die
zähe Heimatliebe eines alten ostpreußischen
Urgesteins doch vermag! Am 4. April 1997 wird
Kurt Krowinnus in Memel beerdigt, ist
heimgekehrt in ostpreußische Heimaterde, - auch
die Beerdigung ermöglicht und bezahlt der fremde
Freund unseres Volkes, Saulius Stankevicius.
Am 7. April steht unser Mitarbeiter
aus Jasnaja Poljana (Trakehnen) vor Krowinnus’
Wohnung, weiß noch nicht von dessen Tod und vom
endlichen Erfolg seines letzten Wunsches und
Weges. Kurt Krowinnus braucht keine Hilfe mehr.
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