Rheinwiesenlager:
Jeden Tag sind Dutzende gestorben
Veranstaltung erinnert an die
Zehntausenden toten deutschen
Soldaten der Rheinwiesenlager
Der
alte Mann im beigefarbenen
Sommermantel kämpft. Mit sich
selbst, mit seinen Tränen, die er
kaum noch zurückhalten kann. Als
Merrit Drucker, Duncan Wade und
Generalmajor a.D. Gerd
Schultze-Rhonhof in ihren Reden zum
Gedenken an die Zehntausenden in den
Rheinwiesenlagern ums Leben
gekommenen Kriegsgefangenen und ihre
unsäglichen Leiden eingehen, geht es
für Siegfried Brüx nicht mehr.
Tränen fließen. Zu deutlich tauchen
die schrecklichen Bilder vor dem
heute 90jährigen wieder auf. Brüx
war Offiziersanwärter, hatte
Stalingrad überlebt, ehe er gegen
Ende des Zweiten Weltkriegs als
Funker in Nürnberg diente. Dort
geriet er 1945 in amerikanische
Kriegsgefangenschaft. Er kam in die
Rheinwiesenlager. In welches genau,
weiß er bis heute nicht.
Dort angekommen, bietet sich dem
damals 22jährigen ein Bild des
Grauens. Vollkommen entkräftete
Kameraden, die vor sich hin
vegetieren. Kein Schutz vor Regen,
keine Decken gegen den aufgeweichten
schlammigen Boden. Bis zu zehn Mann
müssen sich eine
Lebensmittel-Konservenbüchse teilen.
Die Tagesration für einen Häftling.
„Jeden Tag sind Dutzende gestorben",
erinnert sich Brüx. „Ich war
eingeteilt, um die täglichen Toten
wegzuschaffen", verrät er. Er wird
sie nie vergessen: Die Gesichter,
die zerschundenen, ausgehungerten
Körper. Ein Anblick des Schrekkens,
der sich tief in sein Gedächtnis
eingegraben hat. Und der dafür
sorgt, daß auf der Gedenkfeier am
vergangenen Donnerstag im
niederrheinischen Rheinberg die
Trauer auch ihn überwältigt.
Mit zitternden Händen stützt er sich
auf seinen Regenschirm, sichtbar um
Haltung bemüht. Andere haben ihr
Taschentuch hervorgeholt, müssen
sich immer wieder schneuzen. Lange
herrschte in Deutschland betretenes
Schweigen über die grausamen
Haftbedingungen in den
Rheinwiesenlagern. Einer, der dieses
Schweigen brechen will, ist Merrit
Drucker. Der einstige amerikanische
Major war Ende der achtziger Jahre
in Deutschland stationiert. In
Rheinberg. „Wir wussten nichts über
die Rheinwiesenlager, absolut
nichts", erzählt Drucker. Erst als
er einen Mann namens Arthur Stöver
in der Lüneburger Heide kennenlernt,
ändert sich für ihn alles. Der habe
einen äußerst verächtlichen
Gesichtsausdruck aufgesetzt, als ihm
Drucker erzählte, er sei in
Rheinberg stationiert. Schnell wird
klar: Stöver war dort 1945 als
Kriegsgefangener.
Er erzählt Drucker von den
katastrophalen Verhältnissen. Der
amerikanische Offizier entschließt
sich, diese dunkle Seite der
Geschichte seines Landes
aufzuarbeiten. Er stellt
Nachforschungen an, forscht in
Archiven, spricht mit Zeitzeugen. Er
erfährt von den Verstößen gegen die
Genfer Konventionen, über die
schlechte Behandlung deutscher
Kriegsgefangener. Und er bekommt
Schicksale erzählt, wie das von Hans
Gerber. Bürgermeister und
Kirchenvertreter fehlen „Wir hatten
mit leeren Konservenbüchsen
Erdlöcher gegraben, um uns vor
Schlamm und Regen zu schützen",
erinnert sich Gerber. Er erzählt von
Kameraden, die schlafend im Schlamm
erstickten. Davon, wie die
Gefangenen sich gegenseitig
festhielten und im Stehen schliefen,
um nicht zu sterben. Wie er eine
Grube für die Notdurft der
Gefangenen ausheben mußte. „Wir
waren ja alle vollkommen
ausgehungert. Manche waren so
schwach, daß sie sich während des
Urinierens nicht mehr auf den Beinen
halten konnten und in die Grube
fielen", beschreibt der damals
17jährige sein Erlebnis aus einem
Lager bei Bad Kreuznach. Die in die
Fäkaliengruben Gefallenen seien dort
elendig zugrunde gegangen. „Auf dem
Weg in die Lager haben deutsche
Frauen an den Straßen gestanden und
geweint, als sie uns in diesem
schlechten Zustand sahen", schildert
Gerber. Essen und Trinken durften
sie den Gefangenen nicht geben.
Andere Zeitzeugen sprechen gar
davon, daß die Amerikaner
Lebensmittel vor den Augen der
Gefangenen angezündet hätten,
Soldaten mit ihren Gewehrkolben
erschlugen.
„Der Haß auf die Deutschen war
damals von höchster politischer
Ebene geschürt worden", ist sich
Merrit Drukker inzwischen sicher.
Daß fast 70 Jahre später in
Deutschland über die
Rheinwiesenlager nur verhalten
gesprochen wird, verwundert ihn. In
den Vereinigten Staaten könne er
nahezu ungezwungen über das Thema
reden.
Daß Deutschland davon noch weit
entfernt ist, wird daran deutlich,
daß der Bürgermeister von Rheinberg
der vom ehemaligen
Bundeswehr-Oberstleutnant Alfred
Zips organisierten
Gedenkveranstaltung fernblieb. Auch
zwei von Zips eingeladene
Kirchenvertreter sagten ihre
Teilnahme ab. „Es ist Zeit, daß die
Wahrheit bekannt wird", appelliert
der Brite Duncan Wade. Wade ist mit
einer deutschen Frau verheiratet,
deren Großvater an den Folgen seiner
Gefangenschaft gestorben war. Seit
fünf Jahren spürt er „vergessene
Dokumente" auf, spricht mit
ehemaligen Wachposten. Und fordert
eine offizielle Entschuldigung der
Alliierten für begangene Verbrechen.
„Wir wollen der deutschen Gefangenen
gedenken und nicht abrechnen. Auch
wir Deutschen haben uns 1941 in
ähnlicher Weise an sowjetischen
Kriegsgefangenen schuldig gemacht",
betont Schultze-Rhonhof in seiner
Gedenkansprache. Allerdings würden
viele Deutsche Ursache und Schuld an
den Rheinwiesenlagern allein bei
sich suchen. Die Deutschen müßten
erst Frieden mit sich schließen und
zu einer ehrlichen Ursachenforschung
für die Kriege des vorigen
Jahrhunderts zurückfinden.
Heinrich Rohmberg
Zeitung „Junge Freiheit“
05.07.2013
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