»Vergewaltigung des Rechts«
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) hat in
Nürnberg die neue Dauerausstellung zu den
Nürnberger Prozessen eröffnet. Vor 65 Jahren war
der Auftakt des alliierten Siegertribunals in
Berlin, später zog man nach Nürnberg um. Der
renommierte Historiker Prof. Franz W. Seidler
erklärt im DMZ-Interview die Hintergründe.
DMZ: Herr Prof. Seidler, der russische
Außenminister Sergej Lawrow sprach bei der
Eröffnung der Ausstellung „Memorium Nürnberger
Prozesse“ vom „wichtigsten Prozeß in der
Geschichte der Zivilisation“. Teilen Sie diese
Ansicht?
Seidler: Was versteht er wohl unter
Zivilisation? Ich kann keinen Schub zu einer
besseren Zivilisation erkennen. Die Menschen
wurden nachher nicht edler, und die Staaten
wurden nicht friedlicher. Die Nürnberger
Prozesse markieren jedoch eine politische Zäsur.
Die Konkurrenz der sogenannten „faschistischen“
Staaten, insbesondere Deutschlands, war
ausgeschaltet. Die USA und die UdSSR teilten
sich von da an die Weltherrschaft. Die
europäischen Nationalstaaten wurden von der
einen oder anderen Seite für ihre Zwecke
vereinnahmt. Mit dem Prozeß gegen die deutschen
„Hauptkriegsverbrecher“ endete die Kooperation
der beiden Weltmächte. Es zog der Kalte Krieg
herauf, der bis 1990 die Weltpolitik als
Blockpolitik definierte. Der politische Aspekt
des Prozesses rangiert vor dem
zivilisatorischen. Zur Zivilisation hat das IMT
(International Military Tribunal) nichts
beigetragen, aber es hat die heuchlerische
Allianz zwischen den westlichen Demokratien
(USA, Großbritannien, Frankreich) und der
totalitären Diktatur der UdSSR demaskiert.
Nachdem das für beide Seiten gefährliche
„deutsche Schwein“ geschlachtet war, zerfiel das
Bündnis. Zu einem zweiten gemeinsamen Prozeß
fand sich keine Seite bereit.
DMZ: Weshalb bestanden die Alliierten darauf,
selbst über die angeklagten Deutschen zu
urteilen, anstatt dies einem deutschen Gericht
zu überlassen?
Seidler: Die letzte deutsche
Reichsregierung unter dem Reichspräsidenten Karl
Dönitz machte den Versuch, den Prozeß gegen die
mutmaßlichen deutschen Kriegsverbrecher für sich
zu reklamieren, so wie es das Völkerrecht bis
dahin vorsah. Außer über Kriegsgefangene und
Spione hatte kein Staat die Jurisdiktion über
die Staatsbürger anderer Länder. Die Bitte wurde
keiner Antwort für wert befunden. Die Richter
des Reichsgerichts in Leipzig, die dafür
vorgesehen waren, wurden unmittelbar danach von
den sowjetischen Besatzungsstreitkräften
verhaftet. Es war der Wunsch der Amerikaner, den
Prozeß von den Siegermächten durchführen zu
lassen. Russen und Engländer wollten die
angeklagten Personen einfach liquidieren. Die
Bevölkerung in den USA sollte über die deutschen
Verbrechen im Verlauf des Prozesses umfassend
informiert werden, damit die eigene
Kriegspropaganda bestätigt würde.
DMZ: Was war das zentrale Motiv der Sieger:
Rache oder Gerechtigkeit?
Seidler: Beides. Vor der
Weltöffentlichkeit sollte deutlich werden, daß
die Siegerstaaten sogar den abscheulichsten
Verbrechern einen Prozeß zubilligen. Das war
eine scheinbar humanitäre Geste. Das Risiko, die
neutralen Staaten, z. B. Schweiz, Schweden,
Türkei, mit dem Prozeß zu beauftragen, wollten
sie allerdings nicht eingehen.
DMZ: Warum nicht?
Seidler: Die Abrechnung sollte in der
eigenen Regie bleiben, was sich während des
Prozesses wegen der unterschiedlichen
Erwartungen als schwierig erwies. Auch das
angelsächsische Prozeßrecht, auf das man sich
geeinigt hatte, bereitete den Russen und
Franzosen Probleme. Es bot jedoch der Anklage
viele Vorteile gegenüber der Verteidigung, die
gegen ungerechte Anschuldigungen vielfach
machtlos war. Die Ankläger erwiesen sich als
Racheengel. Sie bedienten die Presse mit allen
Ungeheuerlichkeiten, die den Angeklagten
vorgeworfen wurden.
DMZ: Was kritisieren Sie an den Prozessen
genau?
Seidler: Es wurden zahlreiche Prinzipien
des Rechts vergewaltigt, die bis dahin als
unabdingbar galten. Zwei habe ich bereits
erwähnt: 1. Ausschließlich nationale Richter
haben über die Völkerrechts- und
Strafrechtsverstöße der Staatsbürger zu
befinden. 2. Die Verteidigung hat die gleichen
Beweisrechte wie die Anklage. Ich nenne ein paar
weitere: Mit dem „Vorwurf der Verschwörung“
behandelte man die Angeklagten wie Mitglieder
einer kriminellen Bande, von denen jedes für die
Verbrechen der anderen mitverantwortlich ist,
auch wenn er damit nichts zu tun hat.
DMZ: Warum ist das problematisch?
Seidler: Im Völkerrecht war der Begriff „Conspiracy“
unbekannt. Der einzelne Verschwörer sollte für
Taten bestraft werden, die ein anderer
Verschwörer begangen hatte. Eine solche
wechselseitige Verantwortung gab es im
amerikanischen Recht gegen Gangsterbanden, wo
jedes einzelne Mitglied der Bande für den
Ausgang und die Folgen der Tat mit haftbar
gemacht wurde. Hätte es die behauptete
Verschwörung der sogenannten „Hitlerclique“
gegeben, hätte Hermann Göring nicht in den
entscheidenden Augusttagen vor dem Zweiten
Weltkrieg alle Anstrengungen unternehmen können,
um den deutsch-polnischen Krieg zu verhindern.
Dr. Hjalmar Schacht, der aus dem
Konzentrationslager befreit wurde, in das er
durch den Gestapo-Chef Ernst Kaltenbrunner
gebracht worden war, saß mit diesem gemeinsam
auf der Anklagebank, als hätten sie eine
gemeinsame Verschwörung betrieben. Franz von
Papen hatte bis zum Jahr 1933 alles getan, um
die Machtübernahme Adolf Hitlers zu verhindern,
und wurde jetzt angeklagt, mit diesem das
gemeinsame Ziel verfolgt zu haben, einen
verbrecherischen Krieg zu beginnen. Der als
Mitverschwörer auf der Anklagebank sitzende
Rudolf Heß flog mitten im Krieg nach England, um
den Frieden zu vermitteln. Als Teilnehmer einer
gemeinsamen Verschwörung hätte er das nie
getan. Deshalb war der Vorwurf absurd.
DMZ: Ein weiterer Verstoß gegen bestehendes
Recht war, daß der „Angriffskrieg“ für
völkerrechtswidrig und verbrecherisch erklärt
wurde.
Seidler: Deutschland habe Polen
überfallen und den Krieg ausgelöst. Deutschland
habe die „friedliebende Sowjetunion“ überfallen,
um Lebensraum zu gewinnen. Damit habe
Deutschland gegen den Briand-Kellogg-Pakt von
1928 verstoßen. Nach den Buchstaben des Vertrags
schaltete der Kellogg-Pakt jedoch weder
juristisch noch politisch den Krieg als legales
Mittel der Politik aus. Deshalb behauptete der
amerikanische Ankläger Robert H. Jackson, der
Angriffskrieg sei im Bewußtsein der
Weltöffentlichkeit geächtet, so daß die
Buchstaben des Vertrages nicht mehr so wichtig
seien. Der Geist des Vertrages sei
entscheidender als der Wortlaut. Dagegen sprach,
daß weder der Einmarsch der Japaner in die
Mandschurei 1931 noch der Abessinien-Krieg der
Italiener 1935/36 als ein Verstoß gegen den
Kellogg-Pakt angesehen worden waren. Auch die
Tatsache, daß Großbritannien und die Sowjetunion
im August 1941 den neutralen Iran besetzten,
blieb unerwähnt.
DMZ: Man sollte meinen, daß gerade nach dem
Nürnberger Siegertribunal die Welt erheblich
friedlicher hätte werden müssen. Immerhin waren
ja Angriffskriege für alle Zeiten verboten und
geächtet…
Seidler: Nach den Nürnberger Prozessen
gab es zahlreiche Angriffskriege. Es
versündigten sich alle vier Richterstaaten gegen
die Regeln, die sie in Nürnberg aufgestellt
hatten, besonders häufig die USA: Korea-Krieg
1950-1953, Vietnamkrieg 1965-1973, Kosovo-Krieg
1999, Afghanistankrieg ab 2001, Irakkrieg ab
2003. Dazu kommen zahlreiche Militäroperationen
in anderen Staaten, z. B. in El Salvador,
Nicaragua, Kongo, Libyen, Grenada, Panama. Die
UdSSR stand dem nicht viel nach: 1956
intervenierte sie in Ungarn und 1979 in
Afghanistan. Die Briten und Franzosen
unterstützten 1956 den israelischen
Angriffskrieg gegen Ägypten. Das waren alles
keine Verteidigungskriege.
DMZ: Ein Großteil der Gesetze, gegen die die
deutschen Angeklagten angeblich verstoßen haben
sollen, wurden von den Siegermächten erst für
die Prozesse formuliert…
Seidler: Das IMT vergewaltigte einen der
wichtigsten Grundsätze des modernen Rechts:
nullum crimen sine lege previa. Das heißt: Was
nicht gegen bestehende Gesetze verstößt, ist
kein Delikt. Niemand darf für Taten zur
Rechenschaft gezogen werden, die zur Tatzeit
nicht verboten sind. Die Nürnberger Richter
kümmerten sich nicht darum. Sie verurteilten die
Angeklagten für Delikte, die zum Zeitpunkt der
Begehung nicht unter Strafe standen, nämlich
„Verbrechen gegen den Frieden“ und „Verbrechen
gegen die Menschlichkeit“. Beide waren
völkerrechtlich weder definiert noch
sanktioniert.
DMZ:…und die Kriegsverbrechen?
Seidler: Nur Kriegsverbrechen waren
damals ein Bestandteil des internationalen
Rechts. Aber dagegen hatten auch die Alliierten
selbst massenhaft verstoßen. Die Richter in
Nürnberg hatten Angst, die Angeklagten würden
damit kontern. Deshalb schoben sie das „Tu
quoque-Argument“ (Auch du bist schuldig)
beiseite. Jeder Hinweis darauf, daß sich die
Alliierten gleicher oder ähnlicher Verstöße
gegen das Kriegsvölkerrecht, gegen den Frieden
oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht
haben könnten, wie die Deutschen, wurde beim IMT
unterdrückt. So oft ein Verteidiger auf solch
ein Thema zu sprechen kam, schaltete sich die
Anklagevertretung ein, wenn der Vorsitzende
Richter nicht von sich aus tätig wurde. Der
sowjetische Anklagevertreter war bei diesem
Punkt hellwach, weil er am meisten zu befürchten
und am meisten zu verbergen hatte, zum Beispiel
den Einfall in Polen im September 1939 oder den
Massenmord von Katyn im Frühjahr 1940. Der
sowjetische Hauptankläger nannte das Ansinnen
der Verteidigung, Untaten der Gegenseite zu
zitieren, „befremdlich“. Es handle sich um einen
Prozeß gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher
und nicht um ein Verfahren gegen andere. Alle
Fragen nach alliierten Kriegsverbrechen wurden
abgeblockt.
DMZ: Kann ein Prozeß überhaupt „gerecht“ sein,
wenn Sieger über die Verlierer richten?
Seidler: Wenn Sieger gegen Verlierer
„Recht sprechen“, kann kein Urteil erwartet
werden, das Bestand vor der Geschichte hat. Um
es durchzusetzen und zu erhalten, wird die
Siegermacht eingesetzt. Nach dem Zweiten
Weltkrieg stellten die Alliierten die Gesetze
selbst auf, nach denen in Nürnberg geurteilt
werden sollte, sie stellten die Richter und
vollzogen deren Urteile in eigener
Machtvollkommenheit. Nach der Gründung der
Bundesrepublik Deutschland sorgten sie 1954 mit
dem Überleitungsvertrag und 1990 mit dem
Zwei-plus-Vier-Vertrag dafür, daß daran nichts
geändert wurde.
DMZ: Sprechen wir dann hier von juristischen
„Kinderkrankheiten“ oder von fatalen Fehlern im
Gesamtsystem?
Seidler: Die Richter des IMT maßten sich
an, ein neues Völkerrecht zu schaffen. Die
Kritik an diesem Vorhaben setzte unmittelbar
nach dem Prozeßende ein. Es wurde bezweifelt,
daß sich die persönliche Verantwortlichkeit der
Staatsmänner für Vergehen, an denen sie
beteiligt waren, durchsetzen würde. Kein
Kritiker glaubte, daß es gut war, Strafen für
Verbrechen auszusprechen, die zur Tatzeit nicht
strafbar waren. Neues Recht sei nur über
internationale Vereinbarungen zu erreichen. Das
geschah 1949 mit vier „Genfer Konventionen“ zum
Schutz von militärischem Personal und
Zivilisten im Krieg und 1998 mit dem Rom-Statut
zur Errichtung eines „Internationalen
Strafgerichtshofes“, der trotz schärfster
Opposition aus den USA 2003 mit der Vereidigung
von 18 Richtern Wirklichkeit wurde.
DMZ: Der Schriftsteller Ralph Giordano
behauptet, die Deutschen hätten sich nie
intensiv genug mit den Nürnberger Urteilen
beschäftigt und bezeichnet dies als die „zweite
Schuld“. Beschäftigen wir uns etwa nicht genug
mit den Schuldzuweisungen der Siegermächte?
Seidler: Die Errichtung einer neuen
Gedenkstätte in Nürnberg hat wie alle
KZ-Gedenkstätten zum Ziel, die Deutschen auf
Dauer mit den Verbrechen des Dritten Reiches zu
konfrontieren. Sie sollen sich der „ewigen
Schuld des deutschen Volkes“ bewußt werden, so
wie sie in Nürnberg dargelegt wurde. Deshalb
müssen auch Schulklassen da hin. Wer das will,
wird Giordano zustimmen. Ich mache das nicht.
DMZ: Herr Prof. Seidler, vielen Dank für das
Gespräch.
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