Russland und Europa in der neuen
Weltordnung
Eine
fruchtbare Analyse der geopolitischen,
völkerrechtlichen und ideologischen Aspekte des
angebrochenen politischen Jahrhunderts ist nur
außerhalb des Klischees der „Globalisierung“
möglich. Aber jeder, der es wagt, die heiligen
Kühe der Liberalen des Fin de siècle anzugreifen,
riskiert, gegen die Political
Correctness zu
verstoßen.
Wir leben heute im Zeitalter der berüchtigten
Globalisierung. Aber ihre natürlichen Aspekte,
gegen die es sinnlos ist zu protestieren, sind
überhaupt nicht mit der aufdringlichen Ideologie
des Globalismus - dem Instrument der
Weltherrschaft (global
governance) - identisch. Die Übernahme des
Globalismus sowohl durch die westliche als auch
die postkommunistische Welt als natürliche
Ideologie ist ein Erbe des Kalten Krieges - eines
Denkens, das nichts anderes als das Dilemma:
Konfrontation oder Umarmung kennt. Und die fast
totalitäre Aufdrängung der Ideologie des
Globalismus und ihre Übertragung in den Bereich
des Völkerrechts ist eine direkte Folge des Sieges
des liberalen Universalismus über den
kommunistischen.
Die traditionellen Begriffe der Souveränität werden
heute abgelehnt. Die jüngsten Botschaften des
amerikanischen Präsidenten bedeuten das Ende des
Zeitalters des Westfälischen Friedens.
Seit dem Westfälischen Frieden des Jahres 1648, der
das Ende der Kriege zwischen Katholiken und
Protestanten bedeutete, d.h. der Kriege „aus
ideologischen Motiven“, war immer der Begriff des
Staates und nicht das Wertesystem oder der Typus
der staatlichen Ordnung die Quelle des Rechts. Die
Idee der „Volkssouveränität“ ist das grundlegende
Postulat der Aufklärung und der westeuropäischen
liberalen Demokratie. Das internationale
öffentliche Recht stützt sich gerade auf den
Grundsatz der absoluten Souveränität des
Nationalstaates und die Souveränität kann nicht je
nach „Zivilisiertheit“ erster oder zweiter Sorte
sein.
Die UN-Charta gibt in Kapitel I „Ziele und Prinzipien“
[Purposes and
Principles] keinem
religiös-philosophischen oder
gesellschaftlich-politischen System den Vorzug,
und die westliche Demokratie wird darin als
universales Modell überhaupt nicht erwähnt. Im
Gegenteil, die Charta beginnt mit der Bestätigung
der souveränen Gleichheit [sovereign
equality] aller mannigfaltigen Subjekte der
internationalen Beziehungen. Das bedeutet die
Gleichberechtigung der Republik und der Monarchie,
der Gesellschaft des religiösen und der
Gesellschaft des liberal-säkularen westlichen
Typs. Vom Standpunkte des klassischen Völkerrechts
und der UN-Charta aus gesehen sind diese
Grundsätze als ein Ausdruck unterschiedlicher
Besonderheiten der Zivilisationen die
Vorfestlegungen des Willens der Völker und gehören
zum Bereich der inneren Rechtsprechung. Zwischen
ihnen gibt es keine Beziehungen des Höheren zum
Niedrigeren oder des Progressiven zum
Rückständigen.
Noch Ende der 70er Jahre dominierte eine These, die
heute von der Ideologie des Globalismus völlig
abgelehnt wird: „Bei dem grundlegenden Prinzip der
Souveränität des Staates muß eine Intervention,
die das Ziel verfolgt, nicht auf das äußere
internationale Verhalten des Objekts, sondern auf
dessen innere Angelegenheiten Einfluß zu nehmen,
zweifellos als widerrechtlich eingeschätzt
werden“, schrieb der bekannte Historiker und
Politologe S. Hoffman.
25 Jahre später klagt der britische Jurist D.
Armstrong: „Das Völkerrecht regelt die Beziehungen
zwischen den Staaten, aber nicht zwischen den
Menschen, denn dabei stört der Akzent, der auf die
Souveränität gesetzt wird“ Er behauptet, daß es
eine progressive Bewegung zum „Weltrecht“ gibt,
und meint, die Begriffe Gleichheit und
Gleichgewicht würden dem 18. Jahrhundert
angehören. Das Ziel einer solchen Wissenschaft ist
es, die Oberherrschaft der „Weltgesellschaft von
Individuen“ über die Staatengemeinschaft zu
proklamieren. Nach den neuen Konzeptionen
verkündet der Westen das Recht, die Menschenrechte
in jenen Ländern zu schützen, in denen sie
verletzt werden, wobei er humanitäre
Interventionen durchführt, zu denen er gerne
greift.
Eine solche Logik führt zu einer völligen
Wiederherstellung der Breschnewdoktrin.
Anscheinend hat der liberale Universalismus seine
ideellen Begründungen aus dem propagandistischen
Arsenal des ZK der KPdSU der Chruschtschowzeit
entlehnt: „In dem Maße wie sich die Geschichte mit
festem Schritt auf den Sieg des Marktes und der
Demokratie zu bewegt, bleiben einige Länder am
Rande dieser Straße“. Das ist kein Bericht an den
Parteitag der KPdSU, das ist
Condoleeza Rice.
Wofür wurde parallel zur Sicherheitsorganisation
der UNO der Europarat gegründet? In seinen
Statuten und in den Dokumenten werden die
Standards der einheitlichen bürgerlichen
Gesellschaft gefordert, und kein einziges Mal wird
das Wort Souveränität oder Nichteinmischung
erwähnt. Der Europarat ist eine höchst
ideologische Organisation, etwa in der Art einer
Vierten (liberalen) Internationale, die Zeugnisse
für Zivilisiertheit austeilt. Wird er nicht auch
totalitär?
Es erhebt sich die rechtmäßige Frage: Wer bestimmt die
neuen Kriterien für die gesamte mannigfaltige
Welt? Die USA erheben den Anspruch auf das Recht,
selbst die Kriterien der „Wahrheit“ zu bestimmen,
als alleiniger Richter aufzutreten, allein zu
richten und zu strafen. Wird jemand im Namen des
Phantoms der „Weltgemeinschaft“ für
„unzivilisiert“ erklärt, verliert er den Schutz
durch die Normen des Völkerrechts. Aber beide
Seiten der Medaille - die Anmaßung der Rolle des
Schiedsrichters und die universelle Ägide - sind
eine Bedrohung des Begriffs „Staat und
Souveränität" und das Ende des Völkerrechts, der
UN-Charta und des Prinzips der Nichteinmischung
sowie das Ende der Ära des Nationalstaates.
Seinerzeit wurde eine solche Offenbarung des
Sozialdarwinismus - des Kampfes der
Staatsorganismen um ihre Existenz - nicht nur vom
christlichen, sondern auch vom liberalen Denken
abgelehnt.
Die neuen geistigen und geopolitischen Realitäten
Es gibt eine Diskussion über die Globalisierung als
Fortschritt oder Vernichtung der mannigfaltigen
Welt, der unter links-trotzkistischem und
rechts-christlichem Vorzeichen geführt wird. Aber
es gibt praktisch keine Arbeiten, die den
religiösphilosophischen Aspekten dieser
Erscheinung gewidmet sind.
Die natürliche Globalisierung des Lebens der
Gesellschaften ist durch die „Enge der Welt“ und
die unumkehrbar freie Bewegung der Kultur-,
Menschen-, Kapital- und Ressourcenströme bedingt.
Aber sie ist keinesfalls mit der aufdringlichen
„Ideologie des Globalismus“ identisch - einem Erbe
des ideologischen Kampfes, der das Banner der
internationalen liberalen Übergesellschaft unter
amerikanischer „globaler Führung" bleibt. Die
Annahme des Globalismus sowohl durch die
westliche wie auch durch die postkommunistische
Welt als natürliche Ideologie ist ein Erbe des
berüchtigten ideologischen Kampfes, in dem zwei
verwandte Ideen der einheitlichen Welt unter der
Ägide der globalen Führung miteinander
wetteiferten. Und die fast totalitäre Durchsetzung
der Ideologie des Globalismus und ihre Übertragung
auf den Bereich des Völkerrechts ist ein direktes
Ergebnis des Sieges des liberalen Universalismus
über den kommunistischen.
Woodrow
Wilson schockierte auf der Pariser
Friedenskonferenz 1919 die Europäer: „Amerika ist
die ungeahnte Ehre zuteil geworden, seine
Vorherbestimmung zu verwirklichen und den Frieden
zu retten“. Wie Forscher des amerikanischen
Messianismus zugeben,
hatte gerade der
Wilsonianismus das calvinistische Pathos
vom „Werkzeug Gottes“ der angelsächsischen
Puritaner, die Doktrin der „Erlösernation“ [redeemer
nation] und der
„göttlichen Vorherbestimmung“ [manifest
destiny] mit einem
liberalen Gepäck verbunden In diesen Lehren, die
das moralische Recht zur Expansion und Führung der
„Wilden und der Völker des Bösen“ (Senator
Beveridge) beleuchten, äußerte sich immer die
calvinistische Überzeugung davon, daß Gott bereits
auf der Erde jenen belohnt, der seiner Gnade
würdig ist, und daß sich diese Gnade und das
Zeichen, von Gott auserwählt und zum Heil
vorherbestimmt zu sein, im irdischen Erfolg und im
Reichtum äußern würde. Es ist schwer, einen
solchen Hochmut mit der Bergpredigt in Einklang zu
bringen: „Selig sind die Armen im Geiste... Selig
sind, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit
willen.“ Es scheint, als würde gerade heute die
Devise auf dem Staatssiegel der USA „Novus
Ordo
Seclorum“ [Neue
Weltordnung] aus einem mystischen Auftrag in der
Synthese des Imperialismus der Zeiten Theodor
Roosevelts und des
Messianismus im Geiste
Woodrow Wilsons konkrete Gestalt annehmen
„Wir regieren euch, weil das in eurem besten
Interesse ist, und jene, die sich weigern, das zu
verstehen, stellen das Böse dar“, denn „die USA
entsprechen den hohen Prinzipien der politischen
Ordnung, die alle übrigen politischen Ordnungen
übertrifft, und der neue amerikanische
Imperialismus dient dem höchsten moralischen Ziel“
Der Export der Klischees und Stereotypen des
Bewußteins - die ideologische Programmierung - ist
eine notwendige Bedingung für den Erfolg der
„globalen Führung“ der gespaltenen Nationen, die
aus ausschließlich freien Individuen bestehen In
allen Ländern wird den Bürgern das pseudoliberale
Ideal, nicht an den Angelegenheiten des Vaterlands
teilzuhaben, suggeriert, und der Elite die
Illusion, sie sei ein Teil der Weltoligarchie.
Die Ziele gegen Rußland sind die Fortsetzung der alten
geopolitischen Bestrebungen - die Abtrennung des
Kaukasus, Stawropols
und des Kreises Krasnodar,
der jetzt auf ihren Karten „Islamische Republik
Adygäa“ heißt. Von
Rußland fordert der „Terrorismus“ Territorien, um
die das Osmanische Reich und Persien, aufgewiegelt
von Britannien, 300 Jahre lang in den vergangenen
Jahrhunderten Krieg geführt haben.
Die USA führen Krieg gegen die Terroristen um ihrer
imperialen Interessen willen und die „globale
Führung“, Rußland indessen um das „Leben“. In
diesem Kampf zeigt der Verbündete Rußland
gegenüber nicht die notwendige Solidarität in
Bezug auf dessen territoriale Integrität. Die
„antiterroristische Solidarität“ ist
situationsbedingt.
Die Geopolitik und die ewigen Interessen
Die demagogische Deutung der Ergebnisse der Rivalität
zwischen „Totalitarismus und Demokratie“ und der
Predigt der Globalisierung erinnern stark an die
These der marxistischen Gesellschaftslehre: „Der
Hauptinhalt der Epoche ist der Übergang vom
Kapitalismus zum Kommunismus“. Die Neuaufteilung
der Welt widerspiegelt am wenigsten den Kampf der
Ideologien des 20. Jahrhunderts, die in
Wirklichkeit nicht einmal in der Periode des
Kalten Krieges die internationalen Beziehungen
bestimmt hatten.
Heute hat sich unmerklich herausgestellt, daß die
schiffbaren Flüsse, die eisfreien Häfen und die
Ausgänge zum Meer in gleicher Weise wichtig für
die Monarchien des 18 Jahrhunderts und für die
Demokratien des 21. Jahrhunderts sind, denn durch
sie gelangen nicht nur die imperialen Kanonen,
sondern auch die Öltanker.
Die Beteuerungen, der Kalte Krieg sei zu Ende, rufen
vor dem Hintergrund des heutigen Druckes auf das
nichtkommunistische Rußland Skepsis hervor. Die
internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts,
einschließlich der heutigen Ära der Demokratie,
unterscheiden sich von der „imperialen“
Vergangenheit nur durch die ungeahnte
Ideologisierung und plebejische Grobheit. Dazu
gleichen in der Epoche der Rivalität der
libertè des dritten
Standes und der proletarischen
égalité die
amerikanischen Präsidenten und die
Generalsekretäre, die nicht mit Mozart sondern mit
dem Western und Schurikfilmen
groß wurden, weder dem Fürsten Metternich noch dem
Fürsten Gortschakow.
Anstatt „La Russie se
recueille [Rußland
sammelt sich]“ zeigen sie grobe Flüche und den
Rambostil. Aber weder der Koreakrieg noch die
Invasion Kubas durch die USA noch die Invasion
sowjetischer Truppen in Ungarn und in der
Tschechoslowakei haben etwas Neues offenbart, sie
haben lediglich ererbte Konstanten wiederholt.
Mittlerweile zeigt die globale „Perestrojka“ bekannte
geopolitische Ambitionen. Die lateinischen Länder
Ungarn und Tschechien flüchten dabei nicht etwa
vor dem Kommunismus, sondern vor dem fremden
Rußland zur NATO. Sie kehren dabei aber nicht in
das „posthabsburgische Areal“ zurück, sondern in
die atlantische Welt. Nach dem Kanon der
angelsächsischen Strategie des 20. Jahrhunderts
soll Osteuropa niemals mehr weder in die
Orbitalbahn der Deutschen noch in jene der Russen
gelangen. Nicht zufällig sagte Bush, als er
Litauen in die NATO einlud: „Es wird weder ein
München noch ein Jalta geben.“
Man sollte sich auch nicht über das katholische Polen
wundern, das mit den tschetschenischen
Halsabschneidern fühlt, wenn man daran denkt, daß
das polnische Idol Adam
Mickiewicz seinerzeit irgendwo in Konstantinopel „erlosch“
wohin er aufgebrochen war, um dort eine „polnische
Kosakenlegion“ zu organisieren, damit sie im Krim
Krieg auf der Seite der „zivilisierten“
osmanischen Türkei gegen das „barbarische“ Rußland
kämpfen konnte.
Der Ostsee-Schwarzmeer-Bogen ist ein altes Projekt aus
dem 16. Jahrhundert, das Rußland von den Zugängen
zum Meer abschneiden sollte, und das Amselfeld
[Kosovo polje] ist die
einzige natürliche Ebene auf dem Balkan, wo die
NATO-Panzer bis nach Saloniki gelangen können.
Papst Johannes Paul II., der nur die Ukrainer die
Erben des hl. Wladimir nannte, setzte das Werk des
Papstes Urban VIII. fort, der im Jahre 1596
ausrief. „O meine Russinen
(d.h. Ukrainer)! Über euch hoffe ich den Osten zu
erreichen.“ Schließlich treten die siegreichen
Angelsachsen als „Friedensstifter“ in Kabul und
Mesopotamien auf, die schon im Ersten Weltkrieg
für Großbritannien der ersehnte Preis waren. Und
wiederholt der seltsame Lord Judd, der die
„Tschetschenienkomitees“ beim Europarat gründete,
nicht etwa Lord Palmerston,
der auf dem Pariser Kongreß des Jahres 1856 „Tscherkessenkomitees“
ins Leben gerufen hatte? Eines der Hauptziele der
heutigen Neuaufteilung der Welt ist die Kontrolle
über die Naturressourcen - um sie werden die
Kriege der Neuzeit geführt. In diesem Prozeß
spielt die Isolierung Rußlands vom Mittelmeer, dem
Schwarzen Meer und der Region am Kaspischen Meer
eine sehr wichtige Rolle.
Das alles bedeutet die Abdrängung Rußlands an den
Nordosten Eurasiens, wo die Einrichtung eines
Arbeitsplatzes sechsmal teurer als in Europa ist,
wo der Boden bis in eine Tiefe von drei Metern
gefriert und die Heizperiode neun Monate beträgt.
Die Aufgabe der eurasischen Strategie Washingtons ist
es, für sich die entscheidende Kontrolle über die
Weltressourcen zu sichern und unumkehrbar alle
potentiellen Zentren der Macht vom Hebel der
Steuerung dieser Ressourcen zu entfernen. Beiden
Zielen dient der Tschetschenienkonflikt, seitdem
er aus einem gewöhnlichen kriminellen Aufruhr in
ein Instrument des Weltprojekts verwandelt wurde.
Der islamische expansionistische Impuls hatte
immer einen nichtislamischen Dirigenten.
Die neue Weltordnung
Die gegenwärtigen Erscheinungen um das
nichtkommunistische Rußland bestätigen, daß auch
der frühere Kampf zwischen dem kommunistischen und
dem liberalen Projekt der Weltgeschichte in sich
die Stereotypen, die im vorhergehenden Streit
innerhalb der christlichen Kultur geboren wurden,
in sich aufgenommen hatte. Das Dilemma „Rußland
und Europa“ ist organisch in das neue „große
Schisma“ der Epoche der Postmoderne eingegangen,
in der wiederum Ideen mit einander wetteiferten,
die quasi aus einem Nest stammen - dieses Mal aus
der Aufklärung. Dem Kommunismus und dem
Liberalismus - als den beiden Cousins der
Philosophie des Fortschritts - sind in gleichem
Maße der Universalismus und die Gleichsetzung
ihrer Ziele mit den universellen Idealen eigen.
Offensichtlich wird auch die Gemeinsamkeit der
Ziele, wobei die Mittel allerdings unterschiedlich
sind: Es geht um den Aufbau einer einheitlichen
globalen Übergesellschaft und darum, die Welt auf
einheitliche areligiöse und
anationale Standards zu bringen.
Es hängt gerade von Rußland ab, ob das erste Jahrzehnt
des 21. Jahrhunderts eine Zeit sein wird, in der
sich das Kräftedreieck Amerika - Europa - Rußland
herausbildet - als die notwendige Stütze der neuen
geopolitischen Weltordnung. Aber für eine starke
europäische Rolle ist eine starke Asienpolitik
notwendig. Rußland stellt anscheinend seine
vielseitige Strategie wieder her, die seiner
natürlichen Rolle entspricht - das Gleichgewicht
zwischen Ost und West zu sein. Gerade die
Lossagung von dieser Mission hatte unter anderem
auch die Rivalität um das russische Erbe ins Leben
gerufen.
Die Möglichkeit, diese Rolle Rußlands
wiederherzustellen, bietet heute auch die
strategische Lage auf dem euroasiatischen
Kontinent. Sie erwies sich als fester als es
Zbigniew Brzezinski wollte, der mit seinem Buch „The
Grand Chess
Game“ gerade auf seine
Vernichtung zielte. Anatolij
Tschubais, der die russische Elite mit
einem imaginären Platz in der Weltoligarchie, die
vom amerikanischen liberalen Imperium regiert
wird, lockt, möchte aus Rußland gerade ein Feld
auf diesem Schachbrett machen.
Aber es ist wichtig zu erkennen, daß Rußland nur dann
eine politische Achse Eurasiens bleiben kann, wenn
es nicht zuläßt, von der Ostsee und vom Schwarzen
Meer abgeschnitten zu werden.
Eingedenk dessen, daß die
Gortschakowsche Äußerung „Rußland sammelt
sich“ zu seiner Zeit eine weit größere Wirkung
hatte als das Fluchen Nikita Chruschtschows, wäre
es nur nützlich, sich auch dessen bewußt zu
werden, daß sich in der Formel der „strategischen
Partnerschaft“ auch die strategische Rivalität
entwickelt.
Rußland und Europa
Das erste Jahrzehnt der „monopolaren“ Welt endete mit
einem noch nie da gewesenen Antiamerikanismus in
Europa und mit einer Krise der NATO. Aber Europa
hat bis jetzt nicht gezeigt, daß es auch den
Willen und die Fähigkeit hat, ein neues
kulturhistorisches und politisches Projekt als
Alternative zu dem hervorzubringen, welches zu
einer „globalen Führung“ und darunter auch seiner
selbst führte.
Indessen aber verliert sich das „alte“ Europa als
historisches Projekt. Vor dem Hintergrund des
beeindruckenden Wachstums der Europäischen Union
und der Rolle des Euro als zweite Reserve-Währung
der Welt mag das paradox erscheinen. Doch die
Europäische Union ist nichts weiter als ein
gigantisches Industrieunternehmen, das sich nicht
erkühnt hat, selbst irgendwelche Ziele und Werte
außerhalb der Grenzen des irdischen Daseins in die
europäische Verfassung aufzunehmen. Dieses höchst
langweilige Muster der Kreativität der liberalen
„Planung“ bestätigt durch seinen äußersten
Materialismus und Rationalismus das in den 20-er
Jahren geäußerte sarkastische Urteil des
konservativen Rechtsphilosophen Carl Schmitt über
die Einheit des philosophischen Paradigmas des
marxistischen und liberalen Wirtschaftsdämonismus:
„Das Weltbild des modernen Industrieunternehmers
und des Industrieproletariers gleichen sich wie
zwei Zwillingsbrüder... Der Großunternehmer
besitzt kein anderes Ideal als das,
das Lenin besitzt,
nämlich die 'Elektrifizierung der ganzen Erde'.
Der Streit zwischen ihnen dreht sich allein um die
richtige Elektrifizierungsmethode.
Die eingeleitete Neuaufteilung der Welt hat nicht nur
ein geopolitisches Szenario, sondern wird
unvermeidlich auch zur Umgruppierung der
internationalen politischen Kräfte führen. Ihr
Charakter ist nach der Aufnahme der Staaten des
Baltikums in die NATO durchaus klar geworden. Und
in jenem Augenblick, wo Rußland endgültig die
Erwerbungen Peters des Großen einbüßt, welche dem
„alten“ Europa seit dem 18. Jahrhundert keine Ruhe
lassen, werden der „Untergang Europas“ und der
Verlust seiner Lage als Zentrum welthistorischer
Ereignisse eine vollendete Tatsache sein.
Das Besondere an der heutigen Situation besteht darin,
daß die strategischen Verluste Rußlands dieses Mal
nicht an die früheren Kontrahenten oder Nachbarn
auf dem Kontinent übergehen. Die Rückkehr des
Baltikums, Ungarns, Tschechiens, Polens und der
Balkanstaaten in das westliche Areal wird
keineswegs eine Revanche des „alten“ Europas sein,
selbst wenn es den Ruf der Vorfahren in sich
spüren sollte. Je mehr es solche neuen
Veränderungen gibt, desto weniger dienen diese
Konfigurationen Europa selbst. In der Epoche des
technokratischen Globalismus dienen sie der
globalen Führung und dem eurasischen Projekt der
USA. Die These Rumsfelds
vom „alten Europa“ widerspiegelt tatsächlich die
prinzipiellen Veränderungen im amerikanischen
geopolitischen Denken, das auf Eurasien, auf die
globale Führung und die Strukturierung einer noch
weiteren Region unter amerikanischer Ägide
gerichtet ist.
„Die Stärkung des amerikanischen Brückenkopfes auf dem
eurasischen Kontinent mit Hilfe der
transatlantischen Partnerschaft“ braucht
Washington nicht etwa zur Verteidigung des
westlichen Teils des Kontinents vor Bedrohungen
aus dem Osten, sondern damit das „wachsende
Europa“ für die USA „eine reale Sprungschanze zum
Vorankommen in Eurasien wird“. So formulierte es
Zbigniew Brzezinski Aber warum hat Europa nicht
zugehört? Man kann die Welt und Europa nur als ein
gigantisches Wirtschaftsunternehmen betrachten,
das eine ständige Optimierung braucht. Doch auf
einem solchen Weg hört der Wert des historischen
Erbes im Vergleich zur technokratischen
Zweckmäßigkeit auf, eine Rolle zu spielen. Für
einen gigantischen Cyborg existiert kein
Unterschied zwischen einem Mikrochip und Platon,
Shakespeare, Goethe und Dostojewskij. Den Russen
ist dieses rein materialistische Herangehen
bekannt, und sie wissen besser als andere, daß dem
Untergang geweiht ist, wenn sich die Aufgabe des
historischen Daseins nur auf die freie Bewegung
von Kapital und Arbeitskräften beschränkt. Seine
maximale Größe erlangte Europa, als seine
Geschichte die Verkörperung der Ziele und Werte
des menschlichen Geistes und des nationalen Seins
war, das heißt, als es „nicht nur vom Brot allein“
lebte. Auch die kommunistische und äußerst
materialistische UdSSR erlangte den Gipfel ihrer
Stärke erst, nachdem der Krieg den Nationalgeist
und die Rückkehr zu den traditionellen Werten des
Vaterlandes, der Pflicht und der Selbstaufopferung
verlangt hatte. Ist es denn heute nicht
offensichtlich, daß keineswegs die russische
Großmacht eine Bedrohung für Europa als
eigenständige geopolitische und kulturhistorische
Größe und auch für die Möglichkeit einer
konstruktiven Zusammenarbeit auf dem Kontinent
darstellt? Die Kooperation Rußlands und Europas
kann beiden wirklich einen enormen und ebenso
notwendigen Impuls an der Schwelle des dritten
Jahrtausends nach Christi Geburt verleihen. Für
beide ist es wichtig, daß Rußland seine Rolle als
System bildender Faktor der internationalen
Beziehungen zurückerlangt.
Die Verteidigung der gemeinsamen christlichen
Kultur
Ungeachtet ihres
Jahrhunderte langen Gegenüberstehens besitzen die
romanisch-germanische und die russischorthodoxe
Kultur eine gemeinsame apostolisch-christliche
geistige Basis. Die Europäer und die Russen
lieferten Beispiele für die höchsten Formen des
lateinischen und orthodoxen Geistes, die
Westeuropäer und die Russen brachten Genies von
Weltbedeutung hervor, aber auch zwei
unterschiedliche Formen des Abweichens von Gott
– Goethes Faust
verkörperte die Skepsis und den Zweifel des
stolzen westlichen Verstandes, der keinerlei
Richter über sich duldete. Dostojewskijs Iwan
Karamasow verkörperte
die flammende Herausforderung Gottes durch den
stolzen Verstand, der es nicht wünschte, sich mit
der Nachsicht gegenüber den Ungerechtigkeiten und
Sünden des ihn umgebenden Lebens abzufinden. Wir
aber haben auch hart gekämpft, demnach tragen wir
eine besondere Verantwortung für die Wahl des
künftigen Europas und der Formen seiner Einheit.
Die echte Einheit besteht nicht in neuen
Trennungslinien, denn die sind nicht neu und
erinnern zu sehr an die Konfigurationen
des Jahrhunderte langen
Dranges nach Osten, der die Slawen von der Ostsee
und vom Schwarzen Meer abdrängte. Dem
kontinentalen Europa wird das heute nichts geben
können. Die echte Einheit besteht auch nicht im
Diktat der ideologischen Standards des
Europarates, denn das ist ebenfalls nicht neu – so
handelte bereits die III. Internationale. Jacques
Le Goff, der führende
Historiker der Annales-Schule,
sieht die Aufgabe, die „heute die Europäer des
Ostens und Westens realisieren müssen“, „in der
Vereinigung beider Hälften, die aus dem
gemeinsamen brüderlichen Erbe der einheitlichen
Zivilisation hervorgegangen sind, welche die von
der Geschichte geborenen Unterschiede achtet“.
Die wahre Einheit, die den Aufschwung und die
Eigenständigkeit Europas bringen kann, besteht in
der Anerkennung der universellen Gleichwertigkeit
unserer Erfahrungen. Die Zukunft besteht in der
konstruktiven Verbindung des historischen Erbes
und der Kreativität aller ethnischen,
konfessionellen und kulturellen Komponenten
Europas, des germanischen, romanischen und
slawischen, des lateinischen und orthodoxen
Europas.
Die Rivalität zwischen dem kommunistischen und dem
liberalem Universalismus war ausschließlich ein
Streit um die Form der Führung des „Reiches des
Menschen“. Die globale Übergesellschaft, die der
Marxismus predigte und dann der Liberalismus, wird
der Idee Roms ähnlich - die „translatio
imperii“, die vom
Westen auf den Osten, und dann wieder vom Osten
auf den Westen übertragen wird. Und setzt die
Offensive gegen das 2000 Jahre alte Christentum
fort, wovon eines der ständig wiederholten
Klischees des Globalismus von der
„postchristlichen Welt“, der „neuen Zeit“ – New
Age – zeugt.
Im modernen Neoliberalismus und in seinem
universalistischen Projekt verschwindet nicht nur
der christliche Sinn, sondern jegliche sittliche
Zielsetzung des Lebens. Das Ideal des Fortschritts
erwuchs aus dem Empfinden der Universalität des
menschlichen Seins, geboren durch die sittliche
Anspannung des Christentums im Gegengewicht zu den
heidnischen und pantheistischen Vorstellungen über
den Kreislauf der illusorischen Dinge, über
unendliche Phasen und Äone, in denen die
Einmaligkeit der menschlichen Wahl zwischen Sünde
und Tugend keinerlei Wert besitzt. Das eben ist
die Geschichte. Der Liberalismus, der als Kämpfer
für bestimmte Werte entstanden war, ist heute
entartet und fordert eine Garantie dafür, daß er
an keiner der großen nationalen und geistigen
Traditionen der menschlichen Kultur mehr
teilnehmen muß, ja mehr noch, er fordert, diese zu
beseitigen, um damit sein Pseudodasein - eine
Geschichte ohne Zielsetzung - zu gewährleisten.
Natalija Narotschnitskaja
Prof. Dr. Natalija Alexejewna
Narotschnitskaja,
Philosophin und Historikerin, Abgeordnete der
Partei „Rodina“,
stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für
internationale Beziehungen der Staatsduma der
Russischen Föderation.
Aus der Zeitschrift „Volk in Bewegung&Reichsbote“
(1-2009)
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