„Das ist ein Umsturz!“
Der
Lissabon-Vertrag beseitigt de facto das
Grundgesetz. Laut Artikel 20 gilt nun das Recht
auf Widerstand
Moritz Schwarz: Herr
Professor Schachtschneider, Sie haben angekündigt,
eine Minute nach der Verabschiedung des
Lissabon-Vertrags durch den Bundesrat am heutigen
Freitag beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
namens Peter Gauweilers eine einstweilige
Anordnung gegen den Vertrag zu beantragen.
Schachtschneider:
So ist es! Das Gericht wird Bundespräsident Köhler
untersagen, das Zustimmungsgesetz auszufertigen
und den Vertrag zu ratifizieren.
Damit wäre der Lissabon-Vertrag für Deutschland
vorerst nicht gültig. Aber wird Karlsruhe dem
Antrag auf einstweilige Anordnung auch stattgeben?
Schachtschneider:
Der Lissabon-Vertrag ist ja nichts weiter als eine
Neuauflage des gescheiterten Vertrages über eine
Verfassung für Europa von 2004. Bereits dessen
Ratifikation durch den Bundespräsidenten haben
Peter Gauweiler und ich durch unsere damalige
Klage in Karlsruhe verhindert. Genauso wird es
diesmal wieder laufen. Da bin ich sehr
zuversichtlich!
"Verhindern, daß der Vertrag völkerrechtlich
wirksam wird"
Die einstweilige Anordnung bringt aber keine
Entscheidung in der Sache selbst. Es geht dabei
lediglich um einen Aufschub.
Schachtschneider:
Richtig. Sie soll verhindern, daß der Vertrag
völkerrechtlich wirksam wird, bevor Karlsruhe über
unsere eigentlichen Klagen gegen den Vertrag
entschieden hat. Das sind erstens die Organklage,
die das Mitglied des Deutschen Bundestages Peter
Gauweiler, und zweitens die Verfassungsbeschwerde,
die der Bürger Peter Gauweiler in dieser Sache
angestrengt hat, und die beide ich verfaßt habe
und vertrete.
Was unterscheidet diese beiden Rechtsmittel?
Schachtschneider:
Beide zielen auf dasselbe Ergebnis, die
Verhinderung des Vertrages von Lissabon. Der
Unterschied ist, daß eine Organklage nur von einem
Verfassungsorgan, hier dem Bundestagsabgeordneten
Peter Gauweiler, die Verfassungsbeschwerde dagegen
von jedem Bürger angestrengt werden kann.
"Ich weiß um die große politische Verantwortung"
Auch das tut Peter Gauweiler, wenn auch nicht in
seiner Eigenschaft als Parlamentarier, sondern als
Bürger. Warum tun letzteres nicht Sie selbst unter
Ihrem eigenem Namen?
Schachtschneider:
Der Name Gauweiler ist sehr viel
öffentlichkeitswirksamer. Peter Gauweiler setzt
seinen politischen und öffentlichen Status ein.
Ich mache die rechtswissenschaftliche Arbeit.
Mal Hand aufs Herz, glauben Sie denn wirklich, mit
Ihrer Aktion den gemeinsamen Kurs von
Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat stoppen
zu können? Glauben Sie denn ernstlich an die
Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts?
Schachtschneider:
Viele, sehr viele Deutsche und auch viele andere
Europäer setzen auf unsere Verfassungsklage gegen
den Vertrag von Lissabon. Ich weiß um die große
politische Verantwortung, die das Gericht zu
tragen hat, die auch zu einer gewissen politischen
Opportunität führt. Diese manifestiert sich in der
übermäßigen Gewährung von Spielraum, den das
Gericht der Politik entgegen dem Recht einräumt.
"Wir haben den Vertrag damals ganz wesentlich
entschärfen können"
Ich bin kein Traumtänzer und erwarte nicht, daß
das Zustimmungsgesetz für nichtig erklärt wird.
Aber wir werden bedeutsame Änderungen des
Vertragswerkes erreichen. Als ich vor gut fünfzehn
Jahren namens Manfred Brunners gegen den Vertrag
von Maastricht geklagt habe, ist es gelungen, in
Karlsruhe ein neues Grundrecht durchzusetzen:
nämlich das Recht des Bürgers aus Artikel 38,
Absatz 1 des Grundgesetzes auf substantielle
Vertretung durch den Deutschen Bundestag.
Das war keineswegs alles. Wir haben den Vertrag
damals ganz wesentlich entschärfen können.
Insbesondere wurde einer Ermächtigung des
Europäischen Rates, die Rechtsordnungen der
Mitgliedstaaten zu ändern und auch europäische
Steuern einzuführen, die Wirkung genommen.
Beide Ermächtigungen stehen erneut im Vertrag von
Lissabon.
„Es geht um nicht weniger als um die Freiheit!“
Welche Korrekturen erhoffen Sie sich für den
Lissabon-Vertrag?
Schachtschneider:
Zum Beispiel, daß die Rechte des Bundestages und
des Bundesrates wirklich gestärkt werden. Nach der
neuen Vertragslage soll der Europäische Rat in
allen wichtigen Politikfeldern, etwa der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik, der
Steuer- und Justizpolitik – außer der Außen- und
Sicherheitspolitik – die Verträge selbst ganz oder
zum Teil ändern können, ohne daß dem der Bundestag
und der Bundesrat zustimmen müssen.
Diese Entmachtung des gewählten Gesetzgebers ist
unglaublich – aber wahr. Ich möchte aber noch
einmal betonen: Unser eigentliches Ziel ist nicht,
einige Änderungen des Vertrages zu erwirken,
sondern den Vertrag insgesamt aus der Welt zu
schaffen! Denn es geht hier um nicht weniger als
um die Freiheit!
„Mit Lissabon ist Deutschland keine Demokratie
mehr“
Der parteilose Abgeordnete Henry Nitzsche hat den
Lissabon-Vertag am 24. April im Bundestag ein
„Ermächtigungsgesetz“ genannt – und damit einen
Eklat ausgelöst (JF 19/08). Sie sprechen gar von
einem „Umsturz“.
Schachtschneider:
Das ist keine Polemik, ich meine das ernst. Der
Abgeordnete Nitzsche hat recht. Der Vertrag von
Lissabon beraubt Deutschland der Grundlagen seiner
existenziellen Staatlichkeit. Bundesregierung,
Bundesrat und Bundestag sind nicht befugt, einen
solchen Schritt zu tun. „Alle Staatsgewalt geht
vom Volke aus“ – dieses demokratische
Fundamentalprinzip schafft der Vertrag von
Lissabon weitestgehend ab.
Was also ist das anderes als ein Umsturz unserer
verfassungsmäßigen Ordnung? Zudem: Wenn
Deutschland seine existentielle Staatlichkeit
aufgibt und politisch für sein Schicksal nur noch
sehr begrenzt – im Rahmen der Union–
verantwortlich ist, dann ist die politische
Freiheit des Bürgers, die das Grundgesetz verfaßt
hat, ebenso verletzt wie das Recht des deutschen
Bürgers auf substantielle Vertretung durch den
Deutschen Bundestag.
Wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt, ist
Deutschland keine Demokratie mehr, kein
Rechtsstaat mehr, kein Sozialstaat mehr, sondern
Teil einer Region der globalen Rechtlosigkeit.
Daraus ergibt sich, daß wir in eine
Widerstandslage geraten. Gegen jeden, „der es
unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“ – so
heißt es im Artikel 20 Absatz 4 unseres
Grundgesetzes – „haben alle Deutschen das Recht
zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich
ist“.
Diese andere Abhilfe suchen wir in Karlsruhe beim
Bundesverfassungsgericht.
"Ich empfehle den Deutschen, anders zu wählen"
Wenn das Bundesverfassungsgericht die Organklage
und die Verfassungsbeschwerde abschmettert, wäre
damit allerdings doch gerichtlich festgestellt,
daß diese Widerstandslage nicht besteht.
Schachtschneider:
So wird man argumentieren. Tatsächlich aber wäre
der Widerstandstatbestand erfüllt. „Andere
Abhilfe“ durch das höchste deutsche Gericht war
dann „nicht möglich“. Von da an hat jeder Deutsche
das verfassungsmäßige Recht, Widerstand zu
leisten. Die Verantwortung für die freiheitliche
Ordnung hat jeder einzelne Bürger. Das ist die
Logik der Republik.
Was werden Sie tun, um Widerstand zu leisten?
Schachtschneider:
Jede Gewaltanwendung lehne ich ab. Sie wäre meinem
kantianischen Ethos zuwider. Ich empfehle den
Deutschen, anders zu wählen. Ich werde meinen
Widerspruch weiter mit rechtlichen Argumenten
erheben.
"Demokratie ist die politische Form der Freiheit"
Tritt der Lissabon-Vertrag in Kraft, befinden wir
uns, wie Sie geschrieben haben, im Zustand einer
„Diktatur“.
Schachtschneider:
So habe ich das nicht gesagt. Wir denken heute bei
Diktatur immer gleich an die deutsche
Vergangenheit. Dabei entsprach der Hitlersche
Nationalsozialismus viel mehr dem, was die
Griechen Tyrannis genannt haben, als einer
römischen Diktatur.
Für mich ist Diktatur gewissermaßen das Gegenteil
von Demokratie. Demokratie wiederum ist die
politische Form der Freiheit. Diese wird
aufgegeben, wenn die Brüsseler Bürokratie in
Zukunft diktiert, wie wir zu leben haben. Deshalb
ist es nicht überspitzt, wenn ich von Diktatur
spreche. Eine solche Wortwahl widerspricht sicher
politischer Korrektheit. Aber
Political
Correctness dient einzig dazu, die
Meinungsäußerungsfreiheit zu beschneiden.
Ich nehme darauf keine Rücksicht.
„In den Medien herrscht Schweigen – bis auf die JF“
Den Gegnern des Lissabon-Vertrages wird
unterstellt, sie seien „gegen Europa“ und ein
Scheitern des Vertragswesens bedeute ein Scheitern
Europas. Ist das so?
Schachtschneider:
Nein! Ich bin kein Gegner „Europas“ und kämpfe für
die Werte, für die es steht, insbesondere für die
Demokratie. Deshalb bin ich gegen den Vertrag von
Lissabon. Die EU dieses Vertrages schadet einem
europäischen Europa. Sie schafft einen rechtlosen
Großstaat. Darüber sollte auch in unserem Land
gesprochen werden.
In Österreich etwa unterzieht die Presse, vor
allem die
Kronenzeitung, das Boulevardblatt mit
der großen Auflage, den Lissabon-Vertrag
deutlicher Kritik.
Und die bundesdeutschen Medien?
Schachtschneider:
Bis auf die JUNGE FREIHEIT herrscht Schweigen.
"In Deutschland gibt es keine hinreichende
Medienpluralität"
Sie haben zu dem Thema doch auch schon in der
„Welt“ veröffentlicht.
Schachtschneider:
Die Welt
hat vor einem Jahr einen kritischen Beitrag von
mir gebracht. Das ist zugute zu halten, aber
reicht keinesfalls, um die Integrationspolitik der
Regierung einer nachhaltigen Kritik auszusetzen.
Fast alle anderen Medien in Deutschland
unterstützen ohne nähere Erörterung die
Lissabon-Politik.
In Deutschland gibt es keine hinreichende
Medienpluralität. Unsere Medien konzentrieren sich
in der Hand weniger Verleger, die wiederum
wirtschaftlich in hohem Maße von der großen
Wirtschaft, die zu den Profiteuren dieser Politik
gehört, abhängig sind.
„Entmachtung des Volkes, Entstaatlichung
Deutschlands“
Sie betonen, Lissabon ist nicht nur eine Bedrohung
für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft.
Schachtschneider:
Der Lissabon- Vertrag ist in dreierlei Hinsicht
ein Anschlag auf die Demokratie: Erstens werden
die Volksabstimmungen gegen den
EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den
Niederlanden von 2005 unterlaufen. Zweitens
entmachtet der Vertrag den „Souverän“, das Volk,
und zwar in allen Mitgliedstaaten.
Drittens, und das ist ein Ermächtigungsgesetz,
ermächtigt der Unionsvertrag durch Artikel 48,
Absatz 6 den Europäischen Rat im „vereinfachten
Änderungsverfahren“ zur „Änderung aller oder eines
Teils der Bestimmungen ... über die Arbeitsweise
der EU“.
Das heißt, der nicht demokratisch legitimierte
Europäische Rat – das sind die Staats- und
Regierungschefs sowie die Präsidenten des Rates
und der Kommission – kann die Bestimmungen des
Vertrages und damit auch die „Spielregeln“, nach
denen Politik und Gesetze gemacht werden,
abändern, ohne daß die nationalen Legislativen
oder auch nur das Europäische Parlament – das im
übrigen kein wirkliches Parlament ist – zustimmen
müßten.
In Österreich dagegen kann sich der Nationalrat
diese Genehmigung vorbehalten. Die
Kompetenz-Kompetenz sogar über die
Verfassungsgesetze zu stellen, das nenne ich eine
Diktaturverfassung.
Ganz wesentlich dagegen richtet sich die
Verfassungsklage.
Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider
ist sich sicher: „Mit dem Lissabon-Vertrag ist der
Widerstandstatbestand des Grundgesetzes erfüllt.
Danach haben nun ‘alle Deutschen das Recht zum
Widerstand ... gegen jeden, der es unternimmt,
diese Ordnung zu beseitigen’.“ Für den
CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler
formulierte er bereits dessen Organ- und
Verfassungsklage gegen den Vertrag (JF 19/08).
Der 1940 in Hütten in Pommern geborene
Rechtsanwalt leitete den Lehrstuhl für
Öffentliches Recht an der Universität
Erlangen-Nürnberg. Schachtschneider formulierte
bereits eine Vielzahl von Verfassungsklagen,
darunter auch gegen den Vertrag von Maastricht,
die EU-Verfassung und gegen die Einführung des
Euro.
Wichtigste Veröffentlichungen: „Freiheit in der
Republik“ (Duncker & Humblot, 2007), „Prinzipien
des Rechtsstaats“ (Duncker & Humblot, 2006),
„Freiheit – Recht – Staat“ (Duncker & Humblot,
2005), „Die Euro-Illusion“ (Rowohlt, 2001), „Die
Euro-Klage“ (Rowohlt, 1998), „Res Publica Res
Populi. Grundlagen der Republiklehre“ (Duncker &
Humblot, 1997)
Der Vertrag von Lissabon:
Er soll die gescheiterte EU-Verfassung ersetzen.
Der Bundestag hat ihm am 24. April zugestimmt, am
heutigen Freitag wird der Bundesrat folgen. Bis
Mitte 2009 sollen ihn alle 27 EU-Mitgliedsstaaten
ratifiziert haben. Lediglich in Irland wird am 12.
Juni 2008 ein Referendum dazu abgehalten. Zwar
verzichtet er formal auf die Merkmale einer
Verfassung, doch erzielt er den gleichen Effekt:
der Europäischen Union – wie einem Staat – eine
einheitliche Struktur zu geben und sie zu einem
Rechtssubjekt zu machen.
Moritz Schwarz:
„Junge Freiheit“ 20.05.2008
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Demokratie oder Diktat aus Brüssel
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