Das ist Krieg, Sergej, Krieg!
Sergej
Motz wurde 21 Jahre alt. Der junge Soldat
starb 2009 im afghanischen Kundus. Sein
Vater hatte ihn gewarnt: 1983 hatte der
Russlanddeutsche als Soldat der Roten Armee
ebenfalls in Afghanistan gekämpft. Auch in
der Sowjetunion wurde nicht von Krieg
gesprochen.
Berlin, im Oktober 2010 – Es ist die Luft,
denkt Viktor Motz. Oder die Berge. Das
Licht? Nun ist er zurück gekommen nach
Afghanistan, in dieses verdammte Land, in
dem seit 26 Jahren seine Albträume spielen –
aber es fühlt sich an, als käme er nach
Hause. Vielleicht, weil er nie richtig weg
war. Seine Träume handeln vom Krieg, in dem
er hier in den achtziger Jahren kämpfte,
davon, wie er als sowjetischer Soldat
schoss, litt, tötete damals. Seit einiger
Zeit mischen sich Bilder seines Sohnes dazu,
Bilder von Sergej. Vor einem Jahr ging auch
der nach Afghanistan, um zu kämpfen, wie
Viktor 26 Jahre vor ihm.
Doch Sergej Motz kämpfte für ein anderes
Land, für Deutschland. Überlebt hat er es
nicht. Am 29. April 2009 fällt der
21-jährige Russlanddeutsche in Afghanistan.
Er ist der erste deutsche Soldat seit Ende
des Zweiten Weltkriegs, der in einem
Feuergefecht sein Leben verliert. Sergej
Motz’ Geschichte handelt von den Zufällen,
die den einen sterben, die anderen überleben
lassen. Sie handelt von einem Krieg, den
selbst der zuständige Minister
umgangssprachlich erst so nennt, seit sich
die hohe Zahl der Toten nicht mehr anders
erklären lässt. Und sie handelt von einem
Vater, der sich quält, weil er seinen Sohn
nicht aufgehalte hat.
In Kundus
Deshalb steht Viktor Motz jetzt auf dem
Flughafen von Kundus, ein trauriger, kleiner
Mann mit starken Schultern unter der
schusssicheren Weste. Er schaut auf die
verrosteten Sowjethubschrauber, die neben
dem Flugfeld stehen, wie zwei alte Bekannte,
und atmet die Luft, die immer noch nach
Staub riecht und nach verbrannten Kuhfladen.
Es ist Februar 2010, zehn Monate nach
Sergejs Tod. Viktor Motz ist auf Einladung
der Bundeswehr in Afghanistan. Noch einmal
nach Kundus, noch einmal Abschied nehmen.
Vielleicht findet seine Seele dann endlich
etwas Ruhe. Viktor Motz will sehen, wo sein
Sohn seine letzten Tage verbracht hat, wo er
gekämpft hat, wo er gestorben ist. Und vor
allem: wofür?
Der Morgen des 29. April 2009: Die Luft ist
noch mild über dem Lager von Kundus, als
Sergej Motz in seinem Zelt aufwacht. Er
frühstückt nicht, ruft lieber noch schnell
Helena an, seine Freundin. Um 10 Uhr
versammeln sich die 33 Soldaten des
Jägerbataillons 292, F-Zug, zur
Dann klettern Sergej und seine Kameraden in
ihren Schützenpanzer; der „Fuchs“ stammt
noch aus den Achtzigern. Der Auftrag:
„Gesprächsaufklärung“ bei den Dorfältesten
in dem Ort Gul Tepa 3, circa 15 Kilometer
südwestlich von Kundus – eine Routinesache,
mehr nicht. Die Fahrt geht vorbei an
Dörfern, in denen Kinder spielen, vorbei an
Feldern, auf denen Bauern mit ihren Handys
telefonieren, während sie mit
mittelalterlichen Pflügen den Acker
bestellen.
„Immer nur melden“
Drinnen im Panzer sieht Motz davon nicht
viel. Er ist müde, wie alle anderen. In den
55 Tagen, die sie hier sind, hatten er und
seine Kameraden nur anderthalb Tage frei.
Einmal die Woche ruft Sergej Motz bei den
Eltern an. Alles okay so weit, sagt er dann,
nur von einer Sache hätten sie die Nase
voll: Nie dürfen sie eingreifen, wenn sie
bei einer Patrouille Verdächtige aufspüren
oder wenn einer ihrer Spähpanzer beobachtet,
wie die Gegner einen Mörser zum Abschuss
vorbereiten. „Immer nur melden“, heißt es.
Gefechte sind von der Führung nicht
erwünscht, Verluste, alles, was das Bild des
„Stabilitätseinsatzes“ trüben könnte, das zu
der Zeit noch geprägt wird.
Motz und seine Kameraden finden das
frustrierend, wozu sind sie dann da? Abends
fliegen ihnen die Raketen um die Ohren.
Manchmal spielen sie Raketen-Bingo. Vor der
Dämmerung, bevor die Einschläge kommen,
machen sie ihre Einsätze: Die Soldaten
tippen, in welche Lager-Sektoren wann wie
viele Raketen einschlagen werden. Sie werfen
einen Fünfer in den Topf, und wenn die
Raketen pfeifend ins Lager fliegen, werfen
sie sich auf den Boden. In der Hoffnung,
dass es nicht sie, sondern den richtigen
Sektor trifft. Soldatenhumor.
Der Todestag
Am Telefon erzählt Sergej Motz lieber
Belangloses, Beruhigendes: Das Wetter ist
schlecht, die Landschaft ist schön, heute
gab’s Schnitzel. Alltag in Kundus. Viktor
Motz hat sich schon Tausende Male durch
diesen Alltag geklickt. Es gibt viele Videos
und Fotos von Sergej aus dem Einsatz. Viktor
Motz hat sie auf seinem Computer,
Erinnerungen an seinen Sohn, die ihm umso
mehr die Kehle zuschnüren, weil Sergej immer
so glücklich aussieht: Die jungen Männer
posieren wie Rambo mit Knarre und
Sonnenbrille, fangen Käfer, filmen
Schildkröten, buddeln sich gegenseitig ein,
bis nur noch der rasierte Kopf herausschaut.
Oft sitzt Viktor Motz zu Hause am Rechner
und betrachtet diese letzten Wochen seines
Sohnes. Jeden einzelnen Tag hatten er und
seine Frau auf dem Wandkalender
durchgestrichen, als Sergej weg war – 55
Kreuze, feinsäuberlich gezogen, wie mit dem
Lineal. Der 29. April ist frei geblieben.
Es ist der Tag, an dem die Welt des Vaters
untergeht. Der Tag, an dem sein Sohn in der
„Tagesschau“ kommt und sich die Deutschen
erneut fragen, ob tote Soldaten nun wieder
zum Alltag ihres Landes gehören, Krieg.
Sergej Motz
Sein Leben:
Sergej Motz wird am 12. Juni 1987 in
Ekibastus in Kasachstan geboren. Im
Alter von neun Jahren zieht er mit
seinen Eltern nach Deutschland. Im
Januar 2007 wird er Soldat beim
Panzergrenadierbataillon 294 in
Stetten am kalten Markt, später ist
er in Donaueschingen stationiert.
Motz verpflichtet sich bis Ende 2010
bei der Bundeswehr. Im März 2009
fliegt er nach Afghanistan. |
Es ist Nachmittag, als Sergej Motz` Kolonne
Gul Tepa 3 erreicht. Einige Soldaten gehen
ins Dorf, um die immer gleiche Frage zu
stellen: „Was braucht ihr?“ Nach zwei
Stunden fährt die Kolonne los. Sergej sitzt
im „Fuchs“-Panzer. Dort ist es stickig,
laut, Sergej Motz ist es leid. Er fragt
seinen Kameraden Julian Krammer, der immer
hinten links in der offenen Luke am
Maschinengewehr steht, ob sie mal Plätze
tauschen können.
Eine
schicksalhafte Entscheidung
Es ist zu ihrem Ritual geworden. Motz fragt:
„Kann ich?“ Krammer sagt: „Nee.“ Heute ist
es anders: Krammer lässt sich in den Panzer
fallen. „Kannste machen“, sagt er. Sergej
Motz drückt sich von unten in die Luke –
Minuten später stirbt er dort.
Warum er mit Sergej Motz den Platz getauscht
hat? Darüber denkt Krammer heute noch nach.
Er hat es gedreht, gewendet. An Schutzengel
glaubt er nicht, an Gott sowieso nicht,
Schicksal? „Hmmm. Vielleicht.“
Der junge Mann mit dem kurzgeschorenen Haar
sitzt am Esstisch des alten Hauses nahe
Schwäbisch Hall, in dem er mit seiner
Freundin wohnt. An den Enden der
Gardinenstangen hängen Stahlhelme, im
Wohnzimmer stehen eine MG aus
Wehrmachtszeiten, Gewehrschäfte, Zünder,
alles auf Hochglanz poliert.
Seit Krammer 16 ist, geht er mit dem
Metalldetektor in die Wälder und sucht nach
alten Waffen. Das entspannt ihn, sagt er,
die Ruhe, die Natur, die Schicksale hinter
den Fundstücken interessieren ihn. Jetzt
blättert er in seinem Tagebuch, sucht die
Seite, auf der es um Sergejs Schicksal geht,
präzise beschrieben in traurigen Details. In
dem Tagebuch hat er seinen Einsatz
protokolliert, sagt Krammer. So hatte er das
mit seiner Freundin abgemacht, für den Fall,
dass ihm etwas zustößt.
Im
Kugelhagel
Kurz nachdem wir die Plätze getauscht
hatten, passierten wir eine Tankstelle“,
liest er vor. „Auf der Hinfahrt saßen
überall Leute, jetzt war sie menschenleer.“
Hundert Meter weiter fallen plötzlich
Schüsse – von links, von rechts. Die Kugeln
prasseln auf die Außenhaut des Panzers, „wie
Regen“, sagt Krammer. Sergej Motz feuert
zurück, das MG rattert, durch das
Heckfenster sieht Krammer acht, neun dunkel
gekleidete Gestalten auf die Straße laufen.
Sie zielen mit Kalaschnikows auf den
„Fuchs“, dann sacken sie zusammen, einer
nachdem anderen. „Sergej hat schön
reingehalten“, sagt Krammer.
Auch
ihre Kameraden in den anderen Luken feuern
pausenlos. Die Leuchtspurmunition zieht rote
Linien über die Gräben und Lehmmauern,
hinter denen die Angreifer liegen.
Sergej Motz` MG klemmt ständig, er macht mit
dem G36-Gewehr weiter, kurze, konzentrierte
Salven. Dann feuern die Angreifer mit
Panzerfäusten. Fünf Granaten verfehlen das
Ziel, schlagen neben, hinter, vor dem
„Fuchs“ ein. Die sechste Granate „klopft nur
an“, wie Krammer später schreiben wird. Die
siebte trifft den Panzer hinten links
zwischen Funkgerät und Außensprechstelle.
Sie durchdringt den Stahl, trifft Sergej, an
der rechten Körperseite unterhalb des
Brustkorbs. Links am Körper tritt der
Sprengkörper wieder aus. Gruppenführer P.
wird von der Detonation aus der Luke
geschleudert, die Splitter zerreißen den
Feuerlöscher, das Pulver vernebelt alles,
Krammer atmet nur noch das Halongas aus dem
Löschzylinder. Er springt zu einer der
Luken, schnappt nach Luft, reißt sich die
mit Splittern gespickte Schutzbrille
herunter, befühlt sein blutendes Gesicht.
Die anderen im Panzer feuern schon wieder.
Hoffnungslos
Doch Motz“, schreibt Krammer später, „lag
hinten und regte sich nicht. Keine Bewegung.
Kein Schreien. Nichts.“ Krammer klettert zu
ihm, versucht, ihn an der Schulter zu
packen, ihn aufzurichten, aber der Griff
geht ins Leere. Da ist nichts mehr. Der
Boden des Panzers ist schon bedeckt mit
Motz` Blut. Krammer reißt ihm die
schusssichere Weste vom Körper, greift in
Sergej Motz hinein, versucht, die Arterie zu
finden, um sie abzudrücken, so hatten sie es
gelernt.
Hoffnungslos. „Ich hab versucht, ihn
abzubinden, aber da war kein Ansatz, wo man
abbinden konnte“, steht im Tagebuch.
„Herz-Lungen-Wiederbelebung auch keine
Chance.“ Irgendwann hält Krammer inne.
„Sergej“, sagt er, „entschuldige, ich kann
nichts mehr für dich tun.“ Dann wischt er
sich das Gesicht am Ärmel ab und die Hände
und dreht sich weg. Oben rattern die
Gewehre.
Den Ort, an dem sein Sohn starb, durfte
Viktor Motz bei seinem Besuch in Afghanistan
nicht sehen. Zu gefährlich, sagten die
Bundeswehrleute. Dort, wo im Lager Sergejs
Zelt stand, war nur noch eine leere Fläche.
Trotzdem hat es ihm geholfen, zum
Kriegsschauplatz zu reisen.
„Wir müssen zur Ruhe kommen“
„Als ich dort war, war meine Seele
leichter“, sagt Viktor Motz heute, er fühlte
sich seinem Sohn nahe, „aber dort ist dort.“
Und hier ist hier, könnte er jetzt sagen,
aber er greift lieber nach dem Arm seiner
Frau.
Sein Besuch in Kundus ist zwei Monate her.
In Bad Saulgau, einem Städtchen in der
sanften Landschaft zwischen Ulm und dem
Bodensee, ist Frühling. Viktor und Galina
Motz gehen über den Friedhofsweg an der
Kapelle vorbei zu Sergejs Grab, das von
allen Gräbern am reichsten geschmückt ist,
Blumen, Kerzen, gravierte Steine, sein Foto.
Als wäre er erst gestern gestorben.
Seit einiger Zeit versuchen Sergejs Eltern,
nicht mehr so oft hierher zu kommen. „Nur
einmal die Woche“, sagt Viktor. „Wir müssen
zur Ruhe kommen.“
Nur wie?
An dem Tag, an dem Sergej sein Leben verlor,
ist ihres aus den Fugen geraten. 1996 waren
sie als Spätaussiedler aus Kasachstan nach
Deutschland gekommen. Viktor Motz hatte
schnell Arbeit gefunden als Schweißer, sie
waren stolz auf ihr Haus, die Kinder waren
glücklich. Aber was zählt das alles, wenn
eines von ihnen jetzt hier begraben ist?
Täglich kommen sie an Sergejs
Lebensstationen vorbei: An der Förder- und
der Hauptschule; mit seinen Kumpels hing er
auf den Bänken am Gymnasium ab oder am
Bahnhof.
Berufswunsch: Soldat
In den Ferien schnappten sie sich einen
Ghettoblaster und fuhren zum Bodensee. Eine
normale Jugend in Deutschland. Nur was
seinen Berufswunsch angeht, war Sergej
anders als die anderen. Als er in seiner
Klasse sagt, er wolle Soldat werden, johlen
alle. Beknackt, Alter. Sergej sagt: „Ich
will das halt.“
Er sei wahnsinnig stolz gewesen, Soldat zu
sein, sagt die Mutter, eine kräftige Frau.
Sie zieht die Schultern hoch. Die Eltern
sind zurück vom Friedhof, beide sitzen am
Küchentisch, vor sich Kaffee. Sergej habe
das schon als Kind gewollt. In Russland
zähle das etwas, Soldatsein, „mein Vater war
Offizier, mein Bruder auch“. Viktor Motz
sagt nichts.
Er schaut auf seine Hände, die auf der
Tischplatte ruhen. Hat er mit Sergej über
seine Soldatenzeit geredet? „Kaum“, sagt er.
Stille. Während des Wehrdienstes sei Sergej
so begeistert gewesen, sagt Galina Motz. „Im
Wald schlafen, marschieren, schießen – ihm
hat das alles Spaß gemacht.“
Sie weint jetzt. Viktor schweigt. Als sich
Sergej dann verpflichtete, hätten sie nichts
mehr dagegen gesagt, erzählt Galina Motz. Im
August 2008 kam plötzlichder Bescheid,
Sergej sollte nach Afghanistan. „Mir ist ein
Schauer über den Rücken gelaufen“, sagt
Galina Motz, „Viktor hat dann mit Sergej
diskutiert, viel geredet.“
Endlich. „Ich habe ihm gesagt, das ist
Krieg, Sergej, Krieg! Keine
Friedensmission!“, sagt Viktor Motz. Doch
sein Sohn wollte das nicht hören. Er freute
sich auf den Einsatz. In den letzten Tagen
vor der Abreise verbrachte Sergej Motz viel
Zeit mit seiner Freundin, die er heiraten
wollte. Als die Mutter verlangte, dass sie
alle noch ein gemeinsames Foto machten,
sträubte er sich erst – wozu? –, dann ging
er doch mit zum Fotografen.
Eine Umarmung, ein Kuss. Dann war Sergej
fort. „Ich bin schuldig“, sagt Viktor Motz.
Er sieht dabei aus, als würde er gleich
weinen, aber er tut es nicht. Kann er nicht,
sagt er. Es sind diese Fragen, die ihn
quälen: Warum hat er seinen Sohn in einen
Krieg ziehen lassen, den er nicht falsch
findet, aber falsch geführt, zu feige. Er,
der bis heute selbst gepeinigt wird von
seinen Kriegsträumen, vom Trauma. Er, der
von sich sagt, der Krieg habe ihn härter,
gröber, kälter gemacht.
Rückblick
Er kannte das doch alles. Er war 18, als er
im Oktober 1982 zur Armee eingezogen wurde.
Er lernte das, was 26 Jahre später auch sein
Sohn lernen würde: schießen, spähen,
Sprengfallen erkennen. Nach sechs Monaten
wird Viktor Motz` Einheit in eine
Transportmaschine verladen, zu einer Übung,
sagen die Vorgesetzten. Sie fliegen nach
Taschkent, nach Termez, eine Ewigkeit.
Als sich die Ladeklappe der Maschine öffnet,
sieht er die kargen Bergketten,
verschleierte Frauen – irgendwo in
Afghanistan wird Viktor Motz in die Hitze
gespuckt, in einen Krieg, der schon seit
drei Jahren läuft und von dem er trotzdem
nichts weiß. 1979 waren die Sowjets in
Afghanistan einmarschiert, auch sie wurden
als Besatzer bekämpft.
Doch von all dem stand kaum etwas in der
sowjetischen Presse. „Niemals wurde gesagt,
dass dort ein Krieg tobt“, sagt Viktor Motz,
„genau wie heute.“ Wenn man ihn nach Details
aus dieser Zeit fragt, wird er zunächst
stumm. „Schlimm, schlimm, viel Blut“, sagt
er dann. Blickt wieder auf die Hände.
Ihr Mann rede nicht darüber, sagt Galina
Motz, nicht einmal mit ihr. Irgendwann
erzählt er doch, Bruchstücke aus einem
fernen Krieg. In Fünfertrupps seien sie
losgeschickt worden, „auf Patrouille, genau
wie Sergej“. Ständig hätten sie geschossen,
gekämpft, getrunken.
Alles erinnert an Sergej
Getötet? Der Vater nickt, „viel, viel“.
Überall sei doch Gefahr gewesen, sagt er.
Sie hätten bei jedem Schritt auf
herumliegende Zigarettenpackungen geachtet,
Äste auf der Straße, Steine, die vor Kurzem
noch nicht da lagen – Zeichen für
Sprengfallen. Kurz bevor Sergej nach
Afghanistan ging, als klar war, dass sich
daran nichts mehr ändern ließ, habe er das
seinem Sohn noch versucht einzubläuen: „Du
musst gucken, Sergej, gucken, gucken, 360
Grad.“
Sie saßen frierend im Garten, der Vater und
der Sohn, um die Mutter nicht nervös zu
machen. Heute schaut der gefallene Sohn
seinen Eltern und den beiden jüngeren
Geschwistern beim Leben zu. In der großen
Wohnküche, auf einem Tisch gleich neben dem
Fernseher, steht sein Porträt, DIN-A4-groß.
Freundlich blickt Sergej Motz heraus,
daneben ein Blumenstrauß, eine Kerze, die
immer brennt. Sergej sei überall hier im
Haus, sagt Vater Viktor. 2006 hat er es mit
seinem Sohn ausgebaut. „Alles selbst.“
Deshalb denkt er an Sergej, wenn er die
Wendeltreppe sieht, den Kamin. Manchmal
würde Viktor gern ausziehen, weil er sich
fühlt, als lebte er in einem Mausoleum.
„Niemals“, sagt Galina Motz dann, die
Erinnerungen, was, wenn einmal jemand das
Haus abreißt? Auch Sergejs Zimmer wäre fort.
Es sieht sehr sauber aus, unbenutzt, in
einer Ecke die Feldkiste aus dem Einsatz. Im
Schrank liegen Sergejs Uniformen und das
Kondolenzbuch. „Fassungslos und in tiefer
Trauer stehe ich vor unserem gefallenen
Kameraden“, hat Sergej Motz` Kommandeur
eingetragen. „Fremder, unerbittlicher Hass
hat ihn aus unserer Mitte gerissen. Ich
spüre mit allen Angehörigen des PRT Schmerz,
Hilflosigkeit, aber auch die große Last der
Verantwortung für unser Handeln.“
Unterschrift: Georg Klein.
Vorwürfe
Jener Oberst, der später den Luftschlag von
Kundus anordnen sollte, bei dem mehr als 140
Menschen starben. Sergej Motz war der erste
Gefallene unter Kleins Kommando, es sollten
drei folgen. Motz` Tod, wird Oberst
Kleinspäter vor dem
Kundus-Untersuchungsausschuss sagen, sei ein
Einschnitt gewesen, etwas „was uns geprägt
hat, dort vor Ort“.
Neben dem Kondolenzbuch, in einer Schatulle,
liegt die Isaf-Einsatzmedaille, die alle
Soldaten im Afghanistan-Einsatz bekommen.
Viktor Motz schnaubt verächtlich, wenn er
sie sieht. Die bekomme doch jeder. Ihm
reicht das nicht, genauso wenig wie die
Plakette an Sergejs Grabstein: „Ehrengrab
der Bundeswehr“. Wenn Viktor Motz darüber
spricht, wird aus ihm, dem stillen,
traurigen Mann, ein sehr lauter. Die Wut.
„Wir wollen eine offizielle Entschuldigung,
dafür, dass unser Sohn tot ist“, sagt Motz.
Er will wissen, warum die Ausrüstung nicht
besser war – „die Waffen, alles alt,
Schrott!“, ruft er.
Er fragt, warum die Panzerung nicht dicker
war, warum dem Konvoi keine Drohnen oder
Hubschrauber vorangeflogen sind, die den
Hinterhalt hätten entdecken können. Warum
Sergej keine Tapferkeitsmedaille verliehen
bekommt. „Was muss man denn tun, um in
diesem Land ein Held zu sein?“, fragt er. In
gebrochenem Deutsch schreibt er Briefe an
die Kanzlerin, den Bundespräsidenten, den
Verteidigungsminister. Kopien davon hat er
abgeheftet. Es ist für ihn zu einer Mission
geworden.
Er kann etwas tun. Dann, am 9. Juni, über
ein Jahr nach Sergejs Tod, lädt Guttenberg
Viktor und Galina Motz in sein Berliner
Büro. Für eine Tapferkeitsmedaille erfülle
der Fall ihres Sohnes leider nicht die
Kriterien, erklärt er ihnen. Aber eine neue
Auszeichnung für verwundete und gefallene
Soldaten, die werde ja gerade geprüft.
Sie bräuchten nur noch ein wenig Geduld.
Lars Gaede
Der Beitrag erschien zuerst in der „taz“ am
2. Oktober 2010.
VIDEO:
Einsatz in Afghanistan: Der Tod des Sergej
Motz
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