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Die Geister von Nürnberg

 

Nur wenige Amerikaner werden sich noch mit einiger Klarheit an die Prozesse in Nürnberg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern können. Die zivilisierte Welt unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika beeilte sich, die Verbrecher des Zweiten Weltkriegs vor Gericht zu stellen. Nachdem Amerika dabei ist, einen Angriffskrieg gegen den Irak zu führen, müssen die Geister von Nürnberg sicher wieder unterwegs sein.

 

Es gab in diesem Land eine Zeit, in der die Goldene Regel noch eine Bedeutung hatte. Schnell haben wir diejenigen kritisiert, die ein anderes Land attackierten, ohne provoziert worden zu sein. Wir bezeichneten diejenigen, die nach einem Angriff kämpften, um ihr Land gegen diese Aggression zu verteidigen, als Freiheitskämpfer, mindestens aber als Rebellen. Jetzt, wo wir die aggressive Nation sind, wurden diese Bezeichnungen abgeändert in „Aufständische“, „Militante“ oder „Klägliche Reste des alten Regimes“. Das war allerdings noch ehe Gott begann, unsere Außenpolitik vorzugeben, wobei er George W. Bush als seinen Sprecher benutzte. Sicher ändert sich alles, wenn „Der Große Kerl“ auf unserer Seite ist. Ich verstehe wirklich nicht, warum Bush & Co sich mit all diesen Lügen über Massenvernichtungswaffen und Al-Kaeda-Verbindungen aufgehalten haben. Vielleicht hätten die Demokraten die göttliche Intervention nicht geschluckt.

 

Zurück zu den Geistern von Nürnberg: die Prozesse begannen im November 1945. Der Chefankläger Robert Jackson, abgestellt vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika, begann mit den Verfahren gegen 21 von Hitlers Spitzenleuten, darunter Hermann Göring, Wilhelm Keitel und Rudolf Hess, die als Angeklagte vor dem ersten internationalen Tribunal der Welt zur Abhandlung der Planung der schrecklichen Verbrechen standen. Auf der langen Liste der Anklage standen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden.

 

Dieses Verbrechen gegen den Frieden war eine ganz neue Beschuldigung, die es bis dato im Internationalen Recht noch nicht gegeben hatte. Die amerikanischen Ankläger unter der Führung von Richter Jackson hatten eine umfassendere Sicht von Recht im Kopf. Sie erblickten das schwerste Verbrechen in Nürnberg nicht in einem besonderen von den Nazis begangenen Massenmord, auch nicht in der Einrichtung der Vernichtungslager wie Auschwitz. Für die amerikanischen Ankläger führte das schwerste Verbrechen zu einer völlig neuen Anklage: Führen eines Angriffskrieges, oder das Verbrechen gegen den Frieden.

 

Obwohl Winston Churchill, Henry Morgenthau und Cordell Hull die standrechtliche Hinrichtung der Angeklagten befürworteten und Stalin vorschlug, dass die Schuld der Nazis vor Gericht als gegeben betrachtet werden und die Richter sich nur mehr mit dem Ausmaß der Bestrafung befassen sollten, plädierte Jackson mit der vollen Unterstützung von Präsident Truman dafür, dass die Naziführer zu bestrafen seien, dass sie aber ein faires Verfahren bekommen sollten. Einzelne Personen – politische und militärische Führer – sollten durch eine internationale Autorität für Verbrechen verantwortlich gemacht werden, die im Namen des Staates begangen worden waren.

 

Es soll erwähnt werden, dass Opposition gegen die Prozesse auch von einigen einflussreichen Persönlichkeiten des amerikanischen Establishments kam. Richter Harlan Stone vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika und Richter William O. Douglas verurteilten den Prozess. Die Prozesse kamen auch unter politischen Beschuss des Senators Robert A. Taft, eines mächtigen Politikers und Präsidentschaftskandidaten.

 

Ungeachtet dieser Opposition wurden die Prozesse abgewickelt und der Präzedenzfall gesetzt. Die Experten nennen das Präzedenzrecht.

Robert Jackson sagte diesem Gerichtshof, der Sinn von Nürnberg bestehe nicht nur in der Bestrafung der Verbrechen Nazi-Deutschlands: „Die Dinge, die wir verurteilen und bestrafen wollen waren so geplant, so bösartig und so verheerend, dass die Zivilisation nicht tolerieren kann, dass sie ignoriert werden, da sie eine Wiederholung nicht überleben kann.“

Richter Jackson sagte: „Jede Zuflucht zum (Angriffs-) Krieg, jede Art von Krieg ist eine Zuflucht zu Mitteln, die in sich verbrecherisch sind. Krieg führt unweigerlich zu Tötungen, Verletzungen, Freiheitsberaubungen und Zerstörung von Eigentum.“

 

Die Anklage wollte weitere Verfahren einleiten, da der Eindruck entstand, dass die verbrecherischen Handlungen weit über Regierung und Militär hinaus reichten. Die Ankläger dachten, dass ein Prozess gegen 21 Naziführer der Schuld an den Verbrechen Deutschlands nicht gerecht würde. Die Anklage stellte fest: „Wir hatten den Eindruck, dass wir auch gegen die Industriellen vorgehen sollten, die die Konzentrationslager bauten, um billige Arbeitskräfte für ihre Kriegsmaschinerie zu bekommen. Die Generale, die die Macht hatten, Hitler zu stoppen und sich entschieden, das nicht zu tun, die Ärzte, die medizinische Experimente durchführten, sollten vorgeführt werden, so dass die Welt genau sehen konnte, wie es war, dass ein zivilisiertes Land wie Deutschland in derartige Barbarei verfallen konnte.“

 

Die Ankläger kamen zur Ansicht, dass Deutschlands militärisch-industrieller Komplex an der Führung des Kriegs beteiligt war, nicht nur die militärische und zivile Führung.

 

 

Nach Jackson, der an den Obersten Gerichtshof zurückkehrte, übernahm Telford Taylor dessen Stelle als Chefankläger im Prozess gegen die deutschen Industriellen. In seiner Stellungnahme bei der Eröffnung des Verfahrens sagte Taylor: „Man errichtet eine gewaltige Kriegsmaschine nicht in einem Anfall von Leidenschaft, eine Anlage wie Auschwitz nicht in einem vorübergehenden Anfall von Brutalität. Es wird kein Missverständnis geben hinsichtlich der rücksichtslosen Zielstrebigkeit, mit der die Angeklagten ihren Kurs verfolgt haben. Das Ziel war, die deutsche Nation zu einer Militärmaschinerie und diese zu einer derart furchtbaren Vernichtungsmaschine zu machen, dass Deutschland seinen Willen und seine Herrschaft über Europa durchsetzen konnte.“

 

Die zivilisierten Nationen der Welt von 1945 sahen, dass es eines ganzen Landes bedurfte, um das Verbrechen des „aggressiven” Kriegs zu begehen. Ein Mann, der mit der Autorität des Führers ausgestattet war, konnte nicht die einzige Person in einem derart verbrecherischen Unterfangen sein, die zur Verantwortung gezogen werden konnte. Der Feind konnte nicht in eine Art „unter-menschliche“ Spezies transformiert werden ohne die Hilfe der ganzen Nation. Ob offen oder im Verborgenen, jeder war beteiligt.

 

Ist es ein Wunder, dass die Vereinigten Staaten von Amerika unter der Führung von George W. Bush festgestellt haben, dass wir nicht länger an die Rolle glauben, die dieses Land in Nürnberg eingenommen hat? Bush sagt, dass kein amerikanischer Soldat jemals vor ein Gericht außerhalb der Vereinigten Staaten von Amerika gestellt werden soll. Ist es nicht scheinheilig von den Vereinigten Staaten von Amerika, jeden in jedem Land für jeden Verstoß zu verurteilen, wenn wir diese Position einnehmen? Können wir irakische Bürger dazu verurteilen, für die Fehler Saddam Husseins zu sterben, durch amerikanische Bomben und Raketen, und dafür niemandem gegenüber verantwortlich sein? Hätten wir den Deutschen erlaubt, ihren Führern und Soldaten nach dem Ende des Kriegs den Prozess zu machen?

 

Benjamin Ferencz, Mitglied der Anklage in Nürnberg, widerspricht strikt der Position, die Bush einnimmt: „Was die Vereinigten Staaten von Amerika sagen ist, dass wir die Herrschaft des Gesetzes nicht wollen. Ich glaube, das ist gefährlich, sehr gefährlich, weil wir nicht ein Gesetz nur für die Vereinigten Staaten von Amerika und nicht für den Rest der Welt festsetzen können. So geht das nicht. Richter Jackson hat das in Nürnberg eindeutig klargestellt. Das Gesetz muss für jeden gleichermaßen gelten, oder es ist kein Gesetz. Diejenigen, die die andere Auffassung vertreten, haben eine irrige Vorstellung davon, worum es bei einem Gesetz geht. Sie haben auch eine irregeleitete Auffassung davon, wie Wohlfahrt, Gerechtigkeit und Bürgerrechte überall gesichert werden können.“

 

Wieviel Respekt hat man vor einem Pharisäer, und wie sehr sind wir, die Bürger, verantwortlich für Tod und Zerstörung in Irak und Afghanistan?

 

Was würde passieren, wenn wir nicht länger die „Supermacht” wären? Wie würden wir unseren Angriffskrieg in einem Szenario á la Nürnberg verteidigen? Schafft Macht wirklich Recht? Die Geister von Nürnberg sagen Nein!

 

Michael GADDY

 

Über den Autor: Michael Gaddy, ein Veteran von Vietnam, Grenada und Beirut, lebt im Four Corners-Gebiet im amerikanischen Südwesten.

 

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von www.antikrieg.com

 

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