Vom Verteidigungs- zum Angriffsbündnis
Die Rolle der NATO im Wandel der Zeit
Papier
ist geduldig. Das gilt auch für den Text des
NATO-Vertrags. Was als regional
begrenztes Verteidigungsbündnis in
Übereinstimmung mit der UNO-Charta angelegt
war, hat sich inzwischen weit über den
niedergelegten Vertragszweck hinaus zu einer
weltweit operierenden Militärorganisation mit
immer neuen Eingreifbefugnissen entwickelt.
Danach, ob diese Militäraktionen von der
UNO-Charta gedeckt sind oder der
Selbstverteidigung eines der Mitgliedstaaten
dienen, wird nicht mehr gefragt.
Artikel 1
des Nordatlantikvertrags lautet: „Die Parteien
verpflichten sich, in Übereinstimmung mit der
Satzung der Vereinten Nationen, jeden
internationalen Streitfall, an dem sie
beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu
regeln, dass der internationale Friede, die
Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht
gefährdet werden, und sich in ihren
internationalen Beziehungen jeder
Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu
enthalten, die mit den Zielen der Vereinten
Nationen nicht vereinbar sind.“
Artikel 3
besagt: „Die Parteien vereinbaren, dass ein
bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere
von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein
Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie
vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen
bewaffneten Angriffs jede von ihnen in
Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der
Vereinten Nationen anerkannten Rechts der
individuellen oder kollektiven
Selbstverteidigung der Partei oder den
Parteien, die angegriffen werden, Beistand
leistet (…)“.
Was de Gaulle früh erkannte
Dass mit der NATO allerdings auch ganz andere,
ungeschriebene Ziele verbunden sind, erkannte
der französische Präsident Charles de Gaulle
bereits früh. Er sah die NATO als Instrument
amerikanischer Interessen an. Um die eigene
militärische Unabhängigkeit und
Entscheidungsfreiheit zu bewahren und sich und
seine Truppen nicht einem US-Kommando
unterzuordnen, trat Frankreich 1966 aus den
Militärstrukturen der NATO aus. Ob die
Entscheidung von Präsident Sarkozy vom
NATO-Gipfel im April 2008 in Bukarest, in die
militärischen Strukturen der NATO
zurückzukehren, klug war, wird die Zukunft
weisen. Dies umso mehr, als die NATO des
Jahres 2008 inzwischen eine völlig andere
Organisation ist, als sie es 1966 war.
Die allmähliche Umwandlung der NATO zu einem
globalen militärischen Akteur zur Durchsetzung
von US-Weltherrschaftsinteressen begann mit
dem Zerfall des Warschauer Pakts. Was zunächst
als eine Sinnkrise der NATO aufgefasst wurde,
weil der direkte Gegner weggefallen war, gab
Raum zu einer immer weiter gehenden
Neudefinition der Ziele der NATO – wobei der
Vertragstext unverändert blieb.
1992 vereinbarten die Mitgliedstaaten die
Bereitschaft der NATO zu so genannten „Out-of
Area“-Einsätzen. Damit sind Einsätze außerhalb
des NATO-Territoriums gemeint – ein
Widerspruch zum Wortlaut des NATO-Vertrags. In
Fortführung dessen wurde auf der
NATO-Ratskonferenz im Juni 1996 in Berlin das
Combined Joint Task Force (CJTF)-Konzept
verabschiedet. Es sieht multinationale
Einheiten verschiedener Waffengattungen vor,
die gerade auch für Operationen außerhalb des
NATO-Gebietes eingesetzt werden können.
Neues „Strategisches Konzept“
Auf dem NATO-Gipfeltreffen im April 1999 in
Washington verabschiedeten die Staats- und
Regierungschefs der NATO ein neues
„Strategisches Konzept“ des Bündnisses. Es
sieht im Wesentlichen vor:
– Pflege und Stärkung der transatlantischen
Bindung;
– Aufrechterhaltung effektiver militärischer
Fähigkeiten (auch gegen die „Bedrohung durch
Terrorismus“ und „Weiterverbreitung von
Massenvernichtungswaffen“);
– Unterstützung der Europäischen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik (ESVP);
– Krisenbewältigung und Konfliktverhütung.
Neu ist der gemeinsame militärische „Kampf
gegen Terrorismus“, die zunehmend enge
Verzahnung mit der Europäischen Union und das
weltweite Einsatzmandat in Bezug auf
Krisenbewältigung und Konfliktverhütung. Alles
in allem praktisch eine Generalermächtigung,
überall auf der Welt militärisch eingreifen zu
können. Sei es, um angebliche Terroristen oder
„Schurkenstaaten“ zu bekämpfen, sei es, um
irgendwelche „Krisen zu bewältigen“ oder auch
nur mögliche Konflikte bereits im Vorfeld zu
„verhüten“.
Völkerrechtswidriger Angriffskrieg
Damit gibt es im Grunde kein Halten mehr. Dies
umso mehr, als sich die NATO um einen ehernen
Grundsatz des Völkerrechts nicht mehr schert:
Die Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat.
Nach der UNO-Charta und dem geltenden
Völkerrecht ist der Einsatz von Waffengewalt
nur dann zulässig, wenn dies entweder als
Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten
Angriff geschieht oder aufgrund einer
Ermächtigung durch den UNO-Sicherheitsrat.
Doch was geschieht in der Praxis? 1999,
während des Kosovo-Krieges, führte die NATO
massive Luftschläge gegen Jugoslawien, ohne
dass ein NATO-Staat angegriffen gewesen wäre
oder eine Ermächtigung des
UNO-Sicherheitsrates vorgelegen hätte. Der
Angriff war damit klar völkerrechtswidrig, wie
dies auch zahlreiche bekannte
Völkerrechtsprofessoren ausdrücklich
festgestellt haben. Die Statuten des
NATO-Vertrags, die genau so ein Vorgehen
ausschließen, sind damit Makulatur geworden.
Auch verschiedene deutsche Politiker, darunter
der damalige Justizminister Prof. Dr.
Schmidt-Jortzig, die frühere Justizministerin
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der
ehemalige OSZE-Vizepräsident und
Bundestagsabgeordnete Willy Wimmer und
Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichneten
den Kosovo-Krieg als gewöhnlichen
Angriffskrieg der NATO. Laut der Tageszeitung
„Die Welt“ leisteten die Albaner „die
erfolgreichste Propaganda des Krieges“. Laut
der parlamentarischen Versammlung der NATO –
ein von der Allianz unabhängiges Gremium, das
als Bindeglied zwischen dem Bündnis und den
nationalen Parlamenten fungiert – hat die UÇK
mit Provokationen auf eine Eskalation der Lage
im Kosovo hingearbeitet und einen akuten
Handlungsbedarf der NATO inszeniert.
Bei ihren Bombardements tötete die NATO im
Kosovo mit ihren Cluster- und Splitterbomben
viele Zivilisten, sie bombardierte
Flüchtlingstrecks und setzte auch umstrittene
Uranmunition ein. Doch das alles spielte
letztlich keine Rolle. Der Druck der
Amerikaner und die manipulierte öffentliche
Meinung waren einfach zu stark.
Umfunktionierung zum Weltbeherrschungsbündnis
Heute stehen im Vordergrund die so genannten
Krisenbewältigungs- oder
Stabilisierungseinsätze der NATO. Diese finden
weit außerhalb des NATO-Territoriums statt.
Vorgebliches Ziel ist entweder die „Bekämpfung
des Terrorismus“ oder die „Stabilisierung“
schwacher Staaten, wie z.B. in Afghanistan
oder im Libanon. Welche weitreichenden,
gefährlichen und tödlichen Folgen diese
Kampfeinsätze haben, führen die Berichte über
Afghanistan inzwischen nahezu täglich vor
Augen. Dass es dabei nicht etwa um das Wohl
der afghanischen Bevölkerung geht, ist
offensichtlich. Ebenso steht am Hindukusch
natürlich nicht die Existenz der Nato auf dem
Spiel. Es geht vielmehr um die strategischen
Interessen einzelner NATO-Staaten,
insbesondere der USA.
Immer deutlicher wird die Tendenz, die NATO zu
einem Welt-Bündnis umzufunktionieren. Dieses
Bestreben wird insbesondere von den USA und
Großbritannien vorangetrieben. Victoria Nuland,
bis zum Juli 2008 NATO-Botschafterin der USA,
forderte beispielsweise wiederholt eine enge
politische und militärische Zusammenarbeit der
NATO mit Australien, Japan und anderen
Staaten. So soll etwa die Zusammenarbeit
zwischen der NATO und Australien in
Afghanistan der Beginn einer dauerhaften
Beziehung sein. Geplant ist, die in der NATO
„Kontaktländer“ genannten Staaten, darunter
auch Südkorea, durch Teilnahme an
militärischen Einsätzen der Allianz an sich zu
binden.
Victoria Nuland betont ausdrücklich den
globalen Anspruch einer NATO, die sich laut
ihrer Aussage auch mit den
Sicherheitsproblemen im „Mittleren Osten,
Irak, Nordkorea, China, Iran“ beschäftigt. In
das gleiche Horn stößt NATO-Generalsekretär de
Hoop Scheffer. Er spricht bevorzugt von einer
„Transformation“ der Allianz und lässt keinen
Zweifel daran, dass er Einsätze wie in
Afghanistan, Pakistan oder Darfur von der
Ausnahme zur Regel machen will.
Die Einkreisung Russlands
Bei alledem wird die Einkreisung Russlands
gezielt vorangetrieben. Dem diente vor allem
die NATO-Osterweiterung; selbst die ehemaligen
Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland
wurden aufgenommen. Am 15. August 2008 kam es
zwischen den USA und Polen zu einer Einigung
über die Stationierung von Abwehrraketen des
Typs Ground-Based Interceptor (GBI) im Verbund
mit dem geplanten Frühwarnradar bei Brdy in
der Tschechei. Dass die russische Regierung
dies als Bedrohung empfindet, verwundert
nicht.
Der damalige Bundesverteidigungsminister Peter
Struck wurde in einem Vortrag auf der Münchner
Sicherheitskonferenz im Jahr 2002 zum Thema
„Die zukünftige Rolle der NATO“ deutlich:
„Dreh- und Angelpunkt ist die im Vergleich zu
früheren Jahrzehnten völlig veränderte
sicherheitspolitische Situation. Nicht mehr
die starken, sondern schwache Staaten,
nichtstaatliche Akteure und asymmetrische
Bedrohungen beschäftigen uns primär. (...) Es
ist daher richtig, wenn wir von der Annahme
ausgehen, dass der Schwerpunkt der Aufgaben
der Bundeswehr auf absehbare Zeit im
multinationalen Einsatz und jenseits unserer
Grenzen liegen wird. Dies muss sich in
Strukturen und Fähigkeiten konsequent
niederschlagen.“
Zugleich soll die Europäische Union immer
stärker militärisch ausgebaut und eingebunden
werden. Struck wörtlich: „Wir werden die
militärischen Fähigkeiten der Europäischen
Union in Verbindung und abgestimmt mit der
neuen Fähigkeitsinitiative der NATO weiter
ausbauen und verbessern. Damit schaffen wir
ein starkes Europa für eine starke
transatlantische Gemeinschaft.“ – Schöne
Aussichten!
Alexandra von Grothe-Friedrichstein
National Zeitung
http://www.archiv2008.national-zeitung.de/NZ37_2.html
|