Russland und die
NATO: Niemand kann sagen,
er sei nicht
gewarnt worden
Seit
die Regierung Bush im Januar 2007 erstmals ihre
außerordentlich provokativen Pläne bekannt gab,
Raketen und hochentwickelte Radaranlagen auf dem
Gebiet der NATO-Mitgliedsstaaten Polen und
Tschechische Republik zu stationieren, und nachdem
Washington ebenso provokativ darauf bestanden
hatte – übrigens gegen den Einspruch der
NATO-Mitglieder Deutschland, Frankreich und acht
weiterer Mitgliedsstaaten – die instabile Republik
Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen,
hat die russische Regierung wiederholt davor
gewarnt und erklärt, sie werde sich zu einer
Reaktion gezwungen sehen. Jetzt lässt sich ein
ebenso klares wie überraschendes Antwortmuster auf
diese Provokationen erkennen – und die NATO ist
schlecht darauf vorbereitet.
In meinem Buch
Apokalypse jetzt!
habe ich detailliert dargelegt, dass Russland gar
nicht anders konnte, als auf die schlimmsten
militärischen Provokationen der USA seit der
Kuba-Krise 1962 zu antworten. Damals reagierten
Nikita Chruschtschow und die Sowjetunion auf die
provokative Entscheidung der USA,
Interkontinentalraketen auf dem Gebiet eines
NATO-Mitgliedslandes – der Türkei – zu
stationieren, denn diese Raketen konnten innerhalb
weniger Minuten Moskau erreichen.
Die damalige sowjetische Antwort Moskaus war ein
quid pro quo:
Moskau errichtete auf der von Fidel Castro
regierten Karikik-Insel Kuba, also nur etwa 150
Kilometer vom Gebiet der USA entfernt, Rampen für
sowjetische Interkontinentalraketen. Die
anschließende Konfrontation brachte die Welt im
Oktober 1962 bekanntlich an den Rand eines
Atomkrieges, bevor der damalige US-Präsident John
F. Kennedy beunruhigt einlenkte und sich auf
Verhandlungen über einen politischen Kompromiss
mit Moskau einließ, was ihm prompt den Hass der
führenden Generäle im Pentagon einbrachte (und
möglicherweise der Grund für seine Ermordung ein
Jahr später im texanischen Dallas war).
Moskau hat offenbar die Lektion gelernt, denn
dieses Mal handelt das viel kleinere Russland
unter Wladimir Putin und dem neuen Präsidenten
Medwedew klüger. Einerseits zeigt die russische
Führung, dass sie nicht einfach nachgeben wird,
wenn Washington an seiner Strategie festhält,
Russland mithilfe einer immer weiter nach Osten
vorgeschobenen NATO plus Raketenstellungen in
Mitteleuropa zu umzingeln, die in einer realen
Konfrontation eine russische atomare Antwort
praktisch wirkungslos machen würde. Doch anders
als damals antwortet Moskau auf Washingtons
jetzige Provokation mit einer Taktik, die
Militärstrategen als »irreguläre Kriegsführung«
oder als »Kleinkrieg« bezeichnen. Das bedeutet:
Russlands militärische und politische Führung
konzentriert sich jetzt nicht darauf, stur Raketen
zu zählen bzw. gegeneinander aufzurechnen, sondern
spürt vielmehr die »weichen Flanken« der NATO auf,
um dort mit dem geringstem Kräfteaufwand die
größtmögliche strategische Wirkung zu erzielen.
Das russische »Angebot«, die finanziell schwer
angeschlagene Regierung des NATO-Mitgliedslandes
Island zu retten, scheint wieder so ein Fall zu
sein, wo Russland geschickt versucht, »mehr für
sein Geld« zu bekommen oder – im amerikanischen
Slang: »Get more bank for the buck«. Am 7. Oktober
gab die russische Regierung bekannt, sie werde dem
notleidenden Land Kredite in Höhe von etwa vier
Milliarden Dollar gewähren, damit Island die
Finanzkrise meistern könne, die die Regierung in
Reykjavik bereits gezwungen hatte, die drei
führenden Banken des Landes zu verstaatlichen.
Einem bedürftigen NATO-Land helfen …
Island, eine schöne, aber abgelegene Insel mit ca.
223.000 Einwohnern, war schon vor etlichen Jahren
vom Pentagon als Ort für einen strategisch
wichtigen Stützpunkt der US-Luftwaffe entdeckt
worden –
Keflavik Air Base –, der nahe der
Hauptstadt errichtet wurde. Das war lange bevor
amerikanische und kanadische Aluminiumhersteller
Island »entdeckten«, da die praktisch frei
verfügbare thermische Energie für die teure
Aluminiumproduktion kostenmäßig äußerst günstig
ist. Während des Kalten Krieges wurde der winzige
Inselstaat Island umworben, sich der NATO
anzuschließen, weil er für die amerikanische
Militärpolitik strategische Bedeutung hatte.
Island ist noch immer in der NATO, auch wenn der
ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld
entschied,
Keflavik Air Base sei 16 Jahre nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion reine
Geldverschwendung, und sie kurzerhand schloss –
übrigens sehr zum Ärger der isländischen
Regierung, die von den Einnahmen profitiert hatte.
Jetzt, wo die EU-Alliierten und andere nordische
Länder dem Inselstaat nur sehr zögerlich mit den
von Islands Zentralbank so dringend benötigten
Dollars zu Hilfe zu kommen, ist Russland in die
Bresche gesprungen. Gefragt, warum er sich an
Moskau und nicht an die westlichen Länder gewandt
habe, erklärte Premierminister Geir Haarde: »Als
unsere alten Freunde uns nicht geholfen haben,
mussten wir uns eben neue Freunde suchen.«
Russlands Zentralbank hat seit dem russischen
Staatsbankrott 1998 systematisch Auslandsdevisen,
vor allem Dollars gehortet, so dass sie jetzt,
zehn Jahre später, über die drittgrößten
Dollarreserven der Welt verfügt: über mehr als 500
Milliarden Dollar, und zwar hauptsächlich aufgrund
des stark gestiegenen Ölpreises und des Exports
von Öl, Gas und anderen Rohstoffen, die auf dem
Weltmarkt in US-Dollars gehandelt werden.
… und jetzt auch Norwegen
Außerdem
ist Russland jetzt auch in norwegischen Gewässern
aktiv, denn Norwegen ist – wie Island – ebenfalls
seit den frühen Tagen des Kalten Krieges
NATO-Mitglied. Norwegens Luftaufklärung hat
beobachtet, dass russische Kampfflugzeuge seit
Moskaus Reaktion auf den georgischen Angriff auf
Südossetien im August jede Woche dem norwegischen
Luftraum extrem nahekommen und von Eskorten
abgedrängt werden müssen. Außerdem veranstaltet
Moskau seit Kurzem Militärmanöver in unmittelbarer
Nähe der riesigen norwegischen Ölfelder nahe der
gemeinsamen russisch-schwedisch-norwegischen
Grenze am Nordkap, in einer umstrittenen
»Grauzone« vor der Küste. Der norwegische
Militärexperte Jon Bingen brachte diese
Entwicklung treffend auf den Punkt: »Russland
schafft neue Fakten in einem strategisch leeren
Raum.« Anders ausgedrückt: Moskau antwortet auf
die Drohungen der USA und der NATO – die in der
Tat eine tödliche Bedrohung darstellen – mit der
Methode und Taktik der irregulären Kriegsführung.
Russlands Angebot, der Regierung des
NATO-Mitgliedslandes Island mit vier Milliarden
Dollar unter die Arme zu greifen, sollte Europas
NATO-Mitgliedsstaaten daran erinnern, dass sie
sich auf eine überraschende und unerwartete
Antwort gefasst machen müssen, wenn sie weiterhin
widerspruchslos die Provokationen aus Washington
tolerieren. Die Lage wird für den Frieden in
Europa von Tag zu Tag gefährlicher. Bezieht man
eine finanzielle Kernschmelze und eine
Wirtschaftsdepression in den USA mit in die
strategische Gleichung ein (sowie die Gefahr eines
Atomkrieges durch Fehlkalkulation, falls McCain
und Palin am 4. November die US-Wahlen gewinnen
sollten, aber keineswegs nur dann), dann wird
klar, warum die NATO-Mitglieder in der EU seit
August angefangen haben, die grundlegende
NATO-Strategie in Frage zu stellen und über die
schnelle militärische Reaktion Russlands in
Georgien erneut nachzudenken.
F. William Engdahl
http://info.kopp-verlag.de
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