Deutschland und
Russland:
ihre Beziehungen im
Wandel der Zeit
(der
ausgeladene Vortrag von Prof. Dr. habil.
Wjatscheslaw Daschitschew , der am 9.Mai 2008 in
Kiel auf der Tagung der Staats- und
Wirtschaftspolitischen Gesellschaft gehalten
werden mußte)
Deutschland
und Russland gingen in den Kreis von Hauptakteuren
auf der europäischen internationalen Bühne im XIX.
Jahrhundert ein. Sie prägten maßgeblich das
Antlitz Europas und seine Geschichte und erlebten
Höhepunkte ihrer beiderseits vorteilhaften
Zusammenarbeit sowie schwere Missgeschicke in
ihren Wechselbeziehungen.
Um das Wesen und die Hintergründe der Beziehungen
zwischen unseren Ländern besser zu verstehen, muß
man klären, welche Hauptfaktoren diese Beziehungen
prägten und prägen? Vor allem sind folgende zu
nennen:
1) Eine lange geschichtliche Periode der
deutsch-russischen freundlichen Beziehungen, die
bis zum Ersten Weltkrieg dauerte. Die beiden
Völker haben im XVIII. und XIX. Jahrhundert eine
große gegenseitige Befruchtung und Beeinflussung
in der Literatur, in der Philosophie und
Wissenschaft miterlebt. Kant, Hegel,
Feuerbach, List, Lomonosow, Goethe, Schiller,
Puschkin, Tolstoj, Dostojewski, Tschechow, Bach,
Beethoven, Tschaikowski, abgesehen von zahlreichen
anderen geschichtlichen Figuren, ist das
gemeinsame geistige und kulturelle Reichtum
Deutschlands und Russlands. Es sei auch zu
erwähnen, welche enorme Rolle in der russischen
Politik, in der Kultur, Wissenschaft und
Wirtschaft Russlanddeutsche spielten. Es genügt
nur die Namen der Kaiserin Katharina I., des
russischen Ministerpräsidenten Witte, der
Admirale Krusenstern und Heller, des Industriellen
Mehnert, des Wissenschaftlers Rauschenbach zu
nennen.
Preußen schenkte der Menschheit den hervorragenden
Philosophen Immanuel Kant, der das russische
philosophische und politische Denken sehr stark
beeinflußte und bis jetzt beeinflußt. Es ist
erstaunlich, wie Kant - dieser große Sohn von
Preußen - noch vor zwei Jahrhunderten
grundlegende Voraussetzungen für den Frieden
richtig definiert und die Prinzipien des
Völkerrechts formuliert hatte, die ihre Gültigkeit
und ihre Aktualität für die Gegenwart gar nicht
verloren haben. Kant zählte die wichtigsten
„Verbotsgesetze“ auf, die die verantwortlichen
Politiker in ihrem Verhalten in der
internationalen Arena und bei der Gestaltung der
Außenpolitik als eine unabdingbare Voraussetzung
für den Frieden befolgen müssen. Leider haben die
gegenwärtigen Politiker, vor allem in den USA, den
völkerrechtlichen Nachlaß von Kant ganz vergessen.
Sie handeln auf der internationalen Arena seinen
weisen Prinzipien zuwider.
Die Einhaltung der Kantschen „Verbotsgesetze“
setzt natürlich eine hohe Intelligenz, eine hohe
Moral und ein hohes Verantwortungsgefühl der
Politiker und der Staatsführung voraus. Kant
wandte sich gegen die „Ehrsucht, Herrschsucht und
Habsucht“, die ihren Niederschlag in der Politik
finden. Es ist schlecht, verderblich und
verhängnisvoll, wenn die Leitung der Politik in
falsche Hände gerät und von der Gesellschaft nicht
kontrolliert und nicht unterstützt wird.
Kant hielt die Führung von Bestrafungskriegen (bellum
punitivum) für unzulässig. Die Politiker in
Washington aber betrachten solche Kriege als eine
normale und notwendige Praxis (Beispiele:
Jugoslawien, Afghanistan, Irak).
Die Amoralität in der Politik führt in der Regel
zum Krieg. Nach Kant kann der Frieden erzielt
werden, wenn die Politik und die Moral im engen
Zusammenhang sind. Der nackte Pragmatismus, der
vom Egoismus und Eigennutz ausgeht, ist mit der
Friedenssicherung nicht vereinbar. Und die Moral
stellt Kant mit dem Recht gleich. Nur das
politische Handeln, das auf dem Recht beruht, ist
moralisch, sittlich und friedensfördernd. Die
Lockerung der Moral im eigenen egoistischen
Interesse, besonders ihre Trennung von der Politik
ist für internationale Gemeinschaft verderblich.
Heute sind wir Augenzeuge geworden, wie das
Völkerrecht, Moral und Sittlichkeit von der
regierenden Elite der USA ruiniert werden.
2) Die Annährung zwischen Deutschland und
Ruland -beiden großen Nationen Europas - war gar
nicht im Interesse Englands und der USA. Im
Gegenteil bemühten sie sich, beide Länder zu
schwächen und gegeneinander zu treiben. 1935
bewunderte Winston Churchill die Erfolge von
Hitler und schrieb über ihn wie folgt: „Die
Geschichte ist reich an Männern, die mit Hilfe
dunkler Taten an die Macht gekommen sind, die
aber, wenn man ihr Leben in seiner Gesamtheit
betrachtet, trotzdem als große Gestalten gelten
dürfen, die die Geschichte der Menschheit
bereichert haben. Ein solcher Mann könnte Hitler
sein…“. Der deutsche Historiker Leo Sievers hat
zurecht hervorgehoben, daß Churchill dieses
Loblied in dem Glauben geschrieben hätte, in dem
erklärten Anti-Marxisten Hitler einen Kämpfer
gegen die Sowjetunion gefunden zu haben.
3) Zwei Weltkriege, als das russische und das
deutsche Volk in den Kampf gegeneinander von den
„bösen Kräften“ – so Garbatschow - getrieben
wurden. Es war für sie ein schicksalhaftes
Unglück, in diesen beiden Kriegen gegeneinander
kämpfen zu müssen. Das führte zu schwerwiegenden
politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
psychologischen Folgen für beide Länder und für
ganz Europa. Im Ergebnis hat Deutschland in der
zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts seine
Positionen als Großmacht in der europäischen
Politik eingebüßt.
Nach 1945 wurde über dem Kontinent der eiserne
Vorhang als Menetekel eines drohenden globalen
Unheils verhängt. Die Prinzipien der
Nachkriegsregelung, die auf den Jalta- und
Potsdamkonferenzen festgeschrieben wurden,
erwiesen sich für Deutschland viel schwerer und
demütigender, als der Vertrag von Versailles. Sie
brachten ihm die Spaltung, die Besetzung und die
Unterordnung unter fremde Interessen, die bis
heute dauert. Auch für nationale Interessen
Russlands war diese Ordnung verderblich. Die
Spaltung Deutschlands und Europas verankerte die
dauerhafte politische und militärische Präsenz der
USA auf dem europäischen Kontinent.
Aus realistisch denkenden wissenschaftlichen und
politischen Kreisen Russlands ist jetzt eine
scharfe Kritik an die Schöpfer der europäischen
Ordnung nach 1945 zu hören. So schrieb Mitglied
der Russischen Akademie der Wissenschaften Prof.
Nikolai Petrakov am 17. Juli 2007 in der „Literaturnaja
Gaseta“ unter anderem wie solgt: „Das Empörung
erregende Abkommen – der Pakt Churchill –
Roosevelt – Stalin, abgeschlossen praktisch 1945
in Jalta, hat eine einzigartige Umverteilung der
europäischen Territorien festgelegt. Vom deutschen
Volk (nicht von den Nazis) wurden riesige Teile
des Landes in Pommern, Schlesien, Ostpreußen
abgetrennt. Drei Leaders, zwei von denen „echte
westliche Demokraten“, haben vereinbart, eine
totale Deportation von 15 Millionen Menschen der
deutschen Kernbevölkerung, die Hunderte Jahre
lang im Zentrum Europas lebten, durchzuführen. Das
war ein zynischer Kuhhandel und das Komplott der
Sieger……Dann stellt sich die Frage: bleibt der
antidemokratische Pakt zwischen Churchill,
Roosevelt und Stalin, errichtet auf der
Rechtfertigungsideologie der Nachkriegsannexionen
und der Deportation der ethnischen Kernbevölkerung
Deutschlands, rechtmäßig in Kraft? …..Die moderne
Weltdemokratie denkt nicht daran, eindeutige
juristische Normen in dieser wichtigsten Sphäre
der internationalen Beziehungen auszuarbeiten“.
4) der Kalte Krieg, in dem ein Teil des deutschen
Volkes (die Bundesrepublik) auf der amerikanischen
Seite wieder in der globalen Konfrontation gegen
Russland (die Sowjetunion) stand. Dieser Krieg
trug wesentlich zum Sturz der Sowjetunion infolge
seiner „imperialen Überdehnung“ und der inneren
Schwächung bei.
5) Ein besonderer Kapitel in den
deutsch-russischen Beziehungen stellt zweifellos
die Wiedervereinigung Deutschlands dar, die mit
den Reformen der Innen- und Außenpolitik unter
Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 80er Jahre
eng verbunden war. Auf die Tagesordnung der
sowjetischen Politik rückten damals
zusammenhängende Prioritätsaufgaben: die
Einstellung des Kalten Krieges, die Eindämmung der
Hochrüstung, die Überwindung der Teilung
Deutschlands und die Abkehr vom Stalinismus in der
Innen- und Außenpolitik. Der Schlüssel zur
deutschen Einheit lag damals in Moskau. Vor 1985
war er im Besitz der konservativen Kreise des
Politbüros und des ZK. Es kam darauf an, diesen
Schlüssel ihnen zu entziehen und in die Hand des
deutschen Volkes zu übergeben und für die deutsche
Einheit günstige internationale Bedingungen durch
den Ausgleich der Interessen zwischen den
Westmächten und der Sowjetunion zu schaffen. Das
war eine außerordentlich schwierige Aufgabe, wenn
man eingewurzelte Stereotypen des konfrontativen
Denkens, ideologische Vorurteile, üblich gewordene
Feindbilder, die Interessen der Vertreter der
Partei- und Staatsstrukturen bedenkt. Es gelang
aber, alle Hürden zur deutschen Einheit zu
überwinden. Die Wiedervereinigung Deutschlands
ging friedlich vonstatten. Das war ein großer
Verdienst der Gorbatschow-Politik.
6) Der neue halbkalte Krieg der USA gegen Russland
(1991-2008), in den Deutschland wieder
hineingezogen wurde.
Es schien, als ob es nach all den tragischen,
grauenhaften Erfahrungen und Erlebnissen der
beiden Völker in zwei Weltkriegen, besonders im
Laufe des Ostfeldzuges Hitlers gegen die
Sowjetunion, zwischen den Russen und Deutschen zu
keiner Verständigung und Versöhnung kommen könnte.
Die Kollektivschuld der Deutschen an
Naziverbrechen wurde in Russland niemals
anerkannt. Selbst 1942, als der Krieg in vollem
Gange war, wurden sowjetische Soldaten und Bürger
angemahnt: „Hitler kommen und gehen, aber das
deutsche Volk und der deutsche Staat bleiben“. Man
könnte gleichermaßen sagen: „Stalin kommen und
gehen, aber das russische Volk und der russische
Staat bleiben“, denn das Prinzip der
„Kollektivschuld“ ist für die Säuberungen und das
Genozid am russischen Volk in den 1930-er Jahren
nicht anwendbar.
Es ist ein erfreuliches Phänomen in den
Beziehungen zwischen unseren Völkern: buchstäblich
zwei-drei Jahre nach dem Krieg wurden die
Frontgreuel im Gedächtnis der meisten Russen als
Vergangenheitserscheinungen geblieben, die das
Verhältnis zu Deutschen nicht belasten dürften. An
ihre Stelle kamen normale freundliche Gefühle
gegenüber den Deutschen. In einem Spiegelinterview
sagte Alexandr Solshenizyn: „In der gegenseitigen
Anziehung zwischen Deutschland und Russland ist
etwas Vorgegebenes….“. Das ist wirklich wahr.
Im Laufe von drei Jahrhunderten wechselten sich
also Freund- und Feindbilder in den Beziehungen
zwischen Russland und Deutschland. Eine große
Rolle spielten dabei die Außenmächte, besonders
die USA und England, für die jede Annäherung
zwischen unseren Ländern vollkommen nicht
annehmbar war und bis jetzt bleibt.
Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit ist
wichtig. Aber noch wichtiger ist, die Lehren aus
dieser Vergangenheit für die Zukunft zu ziehen und
die glücklichen Jahre in deutsch-russischen
Beziehungen wieder zum Gemeingut unserer Völker
und ganz Europas zu machen.
Die Eigenart der Entwicklung Europas im 20.
Jahrhundert, in dem Deutschland und Russland
agierten, kann man durch die Verdammnis der
Spaltung und Konfrontation bezeichnen. Die sie
prägende Kräftekonstellation änderte sich in ihrem
Charakter je nach der Lage. Entscheidend dabei war
das Kräftespiel und kriegerische
Auseinandersetzungen im Dreieck Frankreich –
Deutschland – Russland. Sie traten gegeneinander
abwechselnd in den Kombinationen auf: a) Russland
und Deutschland gegen Frankreich, b) Frankreich
und Russland gegen Deutschland, c) Frankreich und
Deutschland gegen Russland. Davon profitierten die
USA und England. Für andere Völker Europas wirkte
sich der permanente Wechsel der Gegnerschaft in
diesem Dreieck unheilvoll aus.
Im Zusammenhang mit dieser Hetzpolitik der USA
gestatten Sie mir, ein Beispiel aus der jüngsten
Zeit anzuführen. Neulich hat mein Enkelsohn Iwan
aus der Schule nach Hause ein Computerspiel „made
in USA“ gebracht. Es war für die Kinder im Alter
von 8 bis 15 Jahre bestimmt. Das Spiel heißt: „Der
Kampf der Deutschen gegen die Russen“, und zwar
nicht im Zweiten Weltkrieg, sondern in der
Gegenwart. So versucht man, bei den russischen und
deutschen Jugendlichen alte Feindbilder erwecken
zu lassen. Ist diese psychologische Verdummung der
Jugendlichen nicht empörend?
Die europäischen politischen und wirtschaftlichen
Eliten haben durch ihre konfrontative dumme
Gegeneinanderpolitik Europa im XX. Jahrhundert
verspielt und den Amerikanern preisgegeben. Zur
Zeit und auf die absehbare Zukunft bleiben die USA
Herrscher in Europa. Einer der Wesenszüge der
amerikanischen Politik wurde die Verhinderung
jeglicher Annäherung zwischen Russland und
Deutschland. Ihr Motto lautete nach 1945 und
lautet bis jetzt: „to keep Russians aut of
Europe“, „to keep Germans down“. Altkanzler
Schröder versuchte, diese Annäherung zu
vollziehen. Gegen ihn wurde eine gemeine,
schmachvolle Diskreditierungs- und
Verleumdungskampagne entfacht.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der
Einstellung der offenen Ost-West-Konfrontation bot
sich für die Europäer die einmalige Gelegenheit,
eine qualitativ neue friedliche Ordnung in Europa
nach Prinzipien der Pariser Charta vom November
1990 aufzubauen. Nach dem allgemeinen Konsensus
mußte die Wiedervereinigung Deutschlands in der
Perspektive die Einigung Europas krönen, eines
Europas ohne Trennungslinien und Blockstrukturen,
ohne Zwiespalt und Feindschaft. Obsiegen müssten
die Zusammenarbeit, die gleiche Sicherheit und
Demokratie auf dem gesamten Kontinent. Aber die
Entwicklung Europas ging zum Unglück nicht nach
diesem Szenario. Die amerikanische Regierung hat
den Niedergang der Sowjetunion als eine nie
wiederkehrende Chance zur Herstellung der globalen
Herrschaft der USA und zur Aufrechterhaltung und
Verstärkung ihrer Dominanz in Europa
wahrgenommen.
Unter Präsident Klinton wurde die Loktrin der
amerikanischen „neuen Eindämmungspolitik“ (New
Containment Policy“) ausgearbeitet, die die
Fortsetzung des Kalten Krieges gegen Rußland
bedeutete. Dank der verräterischen Politik des
Jelzin-Rgimes gelang es der USA-Politik in den
90er Jahren, Russland politisch, wirtschaftlich,
wissenschaftlich und technologisch von Innen
gravierend zu schwächen. Die außenpolitische und
strategische Doktrin von Bush sah eine maßgebende
Verschärfung des antirussischen Kurses vor. In den
Vordergrund wurde nicht nur die weitere Schwächung
Rußlands, sondern seine Isolierung und Einkreisung
gesetzt. Leider segelt die bundesdeutsche Politik
im Fahrwasser dieses amerikanischen Kurses. In
Russland ist in den politischen und
wissenschaftlichen Kreisen die Meinung weit
verbreitet, die Bundesrepublik Deutschland konnte
sich von der amerikanischen Dominanz nicht
befreien und bleibt nach wie vor ein Land mit der
begrenzten Souveränität, ein Satellit der USA. Es
scheint, dass diese Einsicht auch den meisten
Deutschen eigen ist Der Altkanzler Gerhard
Schröder nannte das delikat: „relative
Souveränität unserer Außenpolitik“.
Ich erhalte aus Deutschland viele Briefe, in
denen diese Meinung bestätigt wird. So steht in
einem Brief von Herrn Martin Wartenberg
geschrieben: „Beim Lesen ihrer Artikel „Schlacht
um Russland“ und „Quo vadis, Europa“ wurde mein
inniger Wunsch noch verstärkt, Sie persönlich
kennenzulernen und in einen vertiefenden
konstruktiven Gedanken- und Informationsaustausch
mit Ihnen und vielleicht noch mit anderen
wahrhaftigen gutwilligen Persönlichkeiten
Russlands zu kommen…..So wie Sie sehe ich mit
großer Sorge die weltpolitische Lage und gewisse
Pläne, insbesondere die Bedrohung Russlands durch
unsere gemeinsame Feinde. Russland hat gegenüber
Deutschland den Vorteil, daß es frei ist.
Hierzulande wird in den Medien und bei
öffentlichen Äußerungen sehr oft political
correctness geachtet. Unsere Völker sind
menschheitsgeschichtlich und in ihren wichtigen
Aufgaben für die Zukunft eng miteinander verbunden
und aufeinander angewiesen. Zusammenarbeit war
immer fruchtbar. Die größte Tragödie der bekannten
Geschichte war es, dass es unseren gemeinsamen
Feinden mit ihren Agenten gelungen war, dass sich
unsere Völker unbeschreibliches Leid und
unersetzbare Verluste zufügten. Doch das ist noch
nicht alles: die gegenwärtige Zersetzungs- und
Unterwanderungspraktiken, insbesondere gegen die
Jugend, die Wirtschaft und die einst erreichte
hohe europäische Kultur sind Besorgnis erregend“
Sowohl viele Politiker als auch die breite
Öffentlichkeit in Russland sind über die
gegenwärtige Lage und die Politik Deutschlands
sehr besorgt. Warum wird nichts gegen die
USA-Dominanz nichts gesagt und nichts getan? Warum
sind auf dem deutschen Territorium 17 Jahre nach
der Einstellung der offenen Ost-West-Konfrontation
40 Tausend amerikanische und 20 Tausend englische
Truppen mit Atomwaffen stationiert? Wozu hat die
NATO, deren Mitglied die Bundesrepublik ist, 14
Tausend Panzer ( Russland – 4 Tausend), 27 Tausend
gepanzerte Infanteriewagen, (Russland – 9 Tausend)
4 Tausend Kampfflugzeuge (Russland – 2 Tausend)?
Man betrachtet bei uns diese militärische
Gruppierung der NATO als eine wichtige
angelsächsische Komponente des Systems der
Einkreisungspolitik Russlands und daneben als ein
Mittel, „die Deutschen unten zu halten“. Andere
Erklärungen kann man dafür nicht finden, denn
Europa wird von niemandem bedroht. Und wenn dem so
ist, dann stellt sich eine noch eine wichtigere
Frage: wenn Europa nicht bedroht ist, wozu
existiert die NATO überhaupt? Warum wird sie nicht
umgewandelt in ein effektives System der
gesamteuropäischen Sicherheit, Russland
inbegriffen? Was steck eigentlich hinter den
Plänen, die NATO aufrechtzuerhalten und nach Osten
zu erweitern? Wer verhindert die Schaffung einer
neuen friedlichen europäischen Ordnung? Sind das
die USA, die gewillt sind, ihr Hauptinstrument
der Herrschaft in Europa um jeden Preis
beizubehalten? Warum nehmen die Europäer diesen
abnormen und gefährlichen Zustand hin?
Es gibt noch mehrere Fragen, die in Russland kein
Verständnis finden. Welche Vorteile, zum Beispiel,
zieht die Bundesrepublik für sich, indem sie im
Fahrwasser Washingtons segelt und infolgedessen
gezwungen ist, im Rahmen der NATO eine gegenüber
Russland unfreundliche Politik betreiben soll.
Ist das etwa in ihrem Interesse oder im Interesse
der Friedenserhaltung in Europa?
Oder will man unter dem Flügel der USA das Statut
einer Weltmacht wiedererlangen? Die amerikanischen
herrschenden Kreise wollen gar nicht, dass
Deutschland – so beispielsweise Brzesinski – zu
einer Weltmacht emporsteigt. Sie räumen ihm die
Rolle einer regionalen Macht ein. Die Architekten
der amerikanischen Politik sind sogar gegen die
Aufnahme Deutschlands in den Sicherheitsrat der
UNO.
Oder: wozu soll Deutschland ihre Soldaten zu
opfern, um die nationalen (Erdöl) Interessen der
USA am Hindukusch und in anderen Regionen
behaupten zu helfen? Ist es im Interesse
Deutschlands, die Globalisierung der NATO zu
unterstützen, d. h. die Ausweitung ihres
Wirkungsbereichs auf die ganze Welt?
Zu demselben Paradox gehört auch die Beteiligung
der Bundeswehr am amerikanischen Krieg gegen
Jugoslawien. Noch nie gab es in der europäischen
Geschichte einen Präzedenzfall, als eine
außereuropäische Macht in Europa einen Krieg
entfesseln konnte. Das haben die USA gemacht.
Durch die Teilnahme an diesem amerikanischen Krieg
verletzte die Bundesregierung die Verträge, die
nach der deutschen Wiedervereinigung
unterschrieben wurden.
Nach der Ansicht vieler russischen Politiker und
Wissenschaftler kann die demütigende Lage
Deutschlands nicht ewig dauern. An der Leine der
USA und Mittäter der amerikanischen globalen
Abenteuer zu sein, ist es gefährlich und
wirtschaftlich und moralisch ziemlich belastend
geworden. In diesem Zusammenhang hat der deutsche
Politiker Egon Bahr darauf hingewiesen, dass
„kein Volk lange knieend leben kann“ und ermahnte
die deutschen Politiker „zu lernen, eine normale
Nation zu sein“.
In Russland hegt man die Hoffnung, dass die
Tendenz der Befreiung Deutschlands aus der
amerikanischen Klemme zunehmen wird. Das hat in
der Politik des Bundeskanzlers Gerhardt Schröder
seinen Niederschlag gefunden, besonders bei der
Weigerung, an dem Krieg gegen Irak teilzunehmen
und beim ersten in der Geschichte Europas Versuch,
im Hinblick auf diesen Krieg mit Russland und
Frankreich ein Triumvirat ins Leben zu rufen. Es
ist sehr bezeichnend, dass sich 2007 nur 30 % der
Deutschen zur positiven Einschätzung der
amerikanischen Politik neigten („Deutsche Welle“,
04.08.2007).
Die erfolgreiche Umwandlung Deutschlands in eine
normale, voll souveräne Nation liegt im nationalen
Interessen Rulands. Denn eine russlandfeindliche
Politik, wie sie die USA führen, liegt gar nicht
im Interesse eines unabhängigen Deutschlands. Sie
ist auch gar nicht im Interesse Europas. Das
bestätigte Gerhard Schröder: „Die Interessen der
USA und Europas mit Blick auf Russland seien
völlig unterschiedlich. Europa müsse alles
unterlassen, was als Eindämmungspolitik gegenüber
Moskau verstanden werden könne. Dazu gehören auch
Pläne zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens in
das Verteidigungsbündnis NATO“. Das bezieht sich
auch auf die amerikanischen Alleingänge zur
Schaffung des Raketenabwehrsystems in der
Tschechei und Polen, das gegen Rußland gerichtet
ist sowie die Sicherheit und den Frieden in Europa
stark gefährdet.
Ich werde gegen die Wahrheit nicht verstoßen, wenn
ich sage und die Meinung der meisten russischen
Politiker ausdrücke, dass die nationalen
Interessen Russlands und Deutschlands im
Hauptsächlichen übereinstimmen: sie brauchen eine
friedliche europäische Ordnung ohne
Trennungslinien, ohne Feindschaften, ohne
Aufrüstung und Raketen, ohne Herrschaft und
Diktat, ohne Einflusssphären, ein Europa mit dem
hohen Wohlstand aller ihrer Bürger. Europa darf
nicht die Rolle eines Dieners oder Juniorpartners
Amerikas erfüllen.
Was folgert aus dieser kurzen Analyse unseres
Themas? Den Rückgrad der Sicherheit und der
Zusammenarbeit in Europa muß eine enge
Partnerschaft zwischen Frankreich, Deutschland und
Rußland bilden. Zu dieser Partnerschaft müssen
auch Polen, Italien, Spanien und andere
europäische Länder gehören. Dieter Cycon hat in
seinem Buch „Deutschland und Russland. Die
glücklichen Jahre“ sehr richtig geschrieben:
„Nicht der Kampf mit der europäischen Mitte,
sondern die Zusammenarbeit mit ihr muß künftig die
Devise in Moskau wie in Paris sein.
Nur eine kräftige Mitte, die sich mit West und Ost
freundschaftlich fühlt, kann West und Ost
Sicherheit geben – das ist das Ergebnis der
politischen Fehlkalkulationen, Abenteuer und
Katastrophen eines Jahrhunderts……Das Ziel muß
jenes „Europa von Vaterländern vom Atlantik bis
zum Ural“ sein, das der große Seher de Gaulle
angestrebt hatte, ein Europa, das sich in Harmonie
mit dem ganzen Globus entwickeln kann“.
Ich würde dieses Konzept aktualisieren: „Europa
von Atlantik bis zum Pazifik“
Die Emanzipation Europas von der amerikanischen
Dominanz bedeutet nicht irgendwelche Entfremdung
von Amerika. Im Gegenteil wird dies bessere
Grundlagen für die euroatlantische Zusammenarbeit
schaffen.
Prof. Dr. habil. Wjatscheslaw Daschitschew, Moskau
Russische Akademie der Wissenschaften, Zentrum für
internationale wirtschaftliche und politische
Studien des Wirtschaftsinstituts
|