1812: Die Konvention von
Tauroggen
In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni 1812
überschritt Napoleons Grande Armee auf breiter
Front den russischen Grenzfluß Njemen (Memel) -
mit über 500 000 Mann, 100 000 Pferden und 1 100
Kanonen das gewaltigste Heeresaufgebot in der
bisherigen Geschichte. Nur etwa 250 000 Mann
waren Franzosen, die andere Hälfte rekrutierte
sich aus Soldaten nahezu aller Völker Europas.
Zahlenmäßig besonders stark vertreten waren die
Hilfskorps aus Bayern und Österreich, gefolgt
von Preußen. Erst am 16. August, sieben Wochen
nach Feldzugsbeginn, stellten sich die Russen
nach ermüdender Hinhaltetaktik bei Smolensk und
am 5. September bei Borodino, nurmehr knapp
hundert Kilometer von Moskau entfernt, zur
Schlacht.
Beide Male siegte Napoleon - beide Male waren es
klassische Pyrrhussiege, die keinerlei
Entscheidung brachten, doch auf beiden Seiten
hohe Verluste kosteten. Und immer noch zogen
sich die Russen weiter nach Osten zurück - "so
Gott will bis zum Ural und noch weiter", wie man
im Stab des kriegserfahrenen Marschalls Kutusow,
des Oberbefehlshabers der Zarenarmee, zu sagen
pflegte, obgleich es dort, auch das muß erwähnt
werden, nicht nur Befürworter, sondern ebenso
zahlreiche Gegner dieses ewigen Zurückziehens
gab.
Mit dieser Ausweichstrategie, zu der sich rasch
die Taktik der verbrannten Erde gesellte, hatte
Napoleon keineswegs gerechnet. Einen Blitzkrieg
hatte er zu führen gedacht, und zwar ohne allzu
tief nach Rußland einzudringen, mit einer oder
zwei Entscheidungsschlachten, die das russische
Heer vernichten und Zar Alexander I.
friedenswillig machen sollten. "Wie wenig der
Korse mit einem ausgedehnten Feldzug in den
Weiten Rußlands rechnete wird auch daran
deutlich, daß seine Armee ohne Winterausrüstung
in den Kampf zog. Einen Blitzkrieg gedachte
Napoleon zu führen - genauso wie Adolf Hitler
einhundertneunundzwanzig Jahre später, was sich
hier wie dort als entscheidender Irrtum erweisen
sollte."
(Georg Florian)
Am 14.
September besetzte das nur noch rund
einhunderttausend Mann zählende Gros der Grande
Armee Moskau, "diese im Goldglanz funkelnde
Stadt, der herrliche Vereinigungspunkt von Asien
und Europa", wie der französische
Kriegsteilnehmer Graf Ségur vermerkte. Der
Kaiser bezog Quartier im Kreml. Das russische
Heer aber blieb nun, da ihm das französische
nicht mehr folgte, ein paar Meilen hinter Moskau
stehen.
Bereits am 15. September, einen Tag nach dem
Einzug der Franzosen, flackerten überall in
Moskau Brände auf. Rasch griffen sie in der fast
ausschließlich aus Holzgebäuden bestehenden
Stadt um sich, und es dauerte bloß drei, vier
Tage, bis nahezu ganz Moskau in Flammen stand.
Napoleon saß im Kreml, schaute auf die
verglimmende Asche der Stadt, wartete auf eine
Antwort oder gar auf ein Friedensangebot des
Zaren, doch Alexander I. würdigte ihn keiner
Antwort. Er hatte inzwischen den Krieg gegen die
Eindringlinge zum "Vaterländischen Krieg"
erklärt.
Rückzug in die Katastrophe
Sechsundzwanzig Tage lang wartete der Kaiser der
Franzosen nutz- und tatenlos im Kreml. Darüber
verpaßte er den richtigen Zeitpunkt für den
Rückmarsch, und als er ihn dann am 10. Oktober
endlich antrat, hatten Krankheiten seine Armee
bis auf 80 000 Mann dezimiert, die
Witterungsverhältnisse spitzten sich dramatisch
zu und sagten den Eindringlingen den Kampf an.
Zudem machte der Hunger zu schaffen.
Denn die Russen hatten auf ihrem Rückzug nach
Moskau rigoros die Taktik der verbrannten Erde
betrieben, und alles, was dem Feind hätte von
Nutzen sein können - Städte, Dörfer, Gutshöfe,
Bauerngehöfte, selbst die elendsten Katen noch -
unbarmherzig niedergebrannt, am Ende sogar
Moskau. Außerdem setzte der Regen ein und
verwandelte jeden Weg und Steg in grundlosen
Schlamm, so auch Napoleons Rückzugstraße nach
Borodino und Smolensk.
Doch bald schlug das Wetter um. Ende Oktober
fror es Stein und Bein. Am 6. November fiel der
erste Schnee. Das Land bedeckte sich mit einem
"Leichentuch". Leo Tolstoj schrieb während der
Vorstudien zu seinem großen Epos "Krieg und
Frieden" an seine Frau Sophia: "Im nachhinein
könnte man wahrhaftig glauben, Gott selber hätte
alles getan, die Eindringlinge von der
russischen Erde zu vertreiben. Denn nicht immer
hatten wir einen so kalten Winter wie 1812."
Auch Carl von Clausewitz, Kriegsteilnehmer auf
russischer Seite, sprach in seinem Buch "Der
russische Feldzug von 1812" von einem
"ungewöhnlich strengen Winter". Die Metapher vom
Schnee als Leichentuch feindlicher Armeen in
Rußland begann umzugehen. Jedenfalls waren es in
diesem Winter mehr noch als die Kugeln
russischer Grenadiere und die Lanzen der Kosaken
der Frost, der Schnee, der Hunger und die schier
unmenschlichen Strapazen eines schnell zu
regelloser Flucht ausartenden Rückzugs, die
Napoleons Armee vernichten sollten.
"Die eine Armee floh, die andere verfolgte sie",
heißt es in "Krieg und Frieden". Kosaken voraus,
rechts und links, ganze Schwärme, plötzlich
auftauchend, zustoßend und wieder verschwindend,
und im Rücken die russischen Bataillone, denen
man ebenfalls nicht entkommen konnte. Wer
liegenblieb, wurde gefangengenommen oder, viel
häufiger, einfach niedergemacht. Den zu Tode
Erschöpften war endlich alles gleichgültig. Sie
legten sich in den tiefen Schnee, schlossen die
Augen, schliefen ein und starben. Aber auch den
Russen wurde nichts geschenkt. Die Verfolgung
war kein militärischer Spaziergang, sondern
nicht minder ein Leidensweg.
Am 18. November teilte Napoleon seinem
Außenminister in Paris, dem Herzog von Bassano,
mit: "Seit dem letzten Brief ist unsere Lage
ganz verdorben. Frost und schreckliche Kälte
haben fast alle unsere Pferde getötet - über 30
000! Wir waren genötigt, 300 Geschütze und eine
große Anzahl von Munitionswagen zu verbrennen.
Viele Soldaten sind durch die Kälte
liegengeblieben." Und aus "Szanivki am rechten
Ufer der Beresina" schrieb der Kaiser am 29.
November, zwei Tage nach dem mörderischen
Übergang über die von Eisschollen bedeckte
Beresina, den "niemand je vergessen wird, der
davonkam", erneut an den Außenminister: "Bald
werden wir in Wilna sein. Aber werden wir uns
halten können? Verpflegung, Verpflegung,
Verpflegung! Es wäre mir lieb, wenn sich in
Wilna kein ausländischer Gesandter befände. Denn
die Armee ist weiß Gott nicht in dem Zustand,
daß man sie vorzeigen könnte."
In Wahrheit hatte die Grande Armee als
kriegsverwendungsfähiger Truppenverband schon
aufgehört zu bestehen. Von zahlreichen
Regimentern gab es keinen einzigen Überlebenden
mehr, von Divisionen schleppten sich häufig bloß
noch ein paar Handvoll zerlumpter, kranker,
verwundeter, halbverhungerter und halberfrorener
Elendsgestalten nach Westen, und von Armeekorps
gab es, wenn es hoch kam, lediglich ein paar
hundert Mann, die noch ein Gewehr zu tragen
vermochten. Ende Dezember endlich erreichte, was
sich noch dahinschleppen konnte, bei 30 Grad
Kälte die russische Grenze am Njemen - Bilder
des Jammers, ein "Lemurenzug".
Bereits am 5. Dezember hatte der Kaiser die
Trümmer seines Heeres im Stich gelassen. "Ihr
höchster Befehlshaber hüllte sich in seinen
Pelz, setzte sich in seinen Schlitten, verließ
seine Kameraden und eilte davon", liest man in
"Krieg und Frieden". Am späten Abend des 18.
Dezember oder in der Nacht, jedenfalls bei
völliger Dunkelheit und "heimlich wie ein Dieb",
traf Napoleon wohlbehalten in Paris ein. Wenige
Tage darauf schrieb ihm aus Polen Marschall
Berthier: "Sire, die Armee gibt es nicht mehr,
alles ist verloren." Im Hofbulletin dagegen hieß
es: "Seine Majestät der Kaiser befinden sich bei
bester Gesundheit." In Paris herrschte in den
Vorweihnachtstagen von 1812, anders als im
fernen Rußland, mildes Wetter. In den Gärten der
Tuilerien blühten die letzten Rosen.
Ein ungeliebtes Zweckbündnis
Verglichen mit dem Gros der Grande Armee kamen
das österreichische Hilfskorps an seiner
Südflanke und das preußische an der Nordflanke
wesentlich glimpflicher davon. Beide operierten
seitab und fern des Hauptgeschehens. Ohne
nennenswerte Gefechtstätigkeit zu entfalten, lag
das preußische Korps, das der Armeegruppe
Macdonald unterstellt war und von Generalmajor
Hans David Ludwig Yorck befehligt wurde, seit
Mitte August vor der russischen Festung Riga,
während die Armeegruppe Macdonald selbst in
Kurland war und sich das Hauptquartier in dem
knapp fünfzig Kilometer südwestlich von Riga
entfernten Mitau befand. Die Untätigkeit der
Preußen war verständlich. Schließlich war es
nicht der Wille ihres Königs gewesen, der das
Hilfskorps nach Rußland, bis Riga und an die
untere Düna geführt hatte, sondern das
ungeliebte Zweckbündnis, das Napoleon dem 1806
bei Jena und Auerstedt vernichtend geschlagenen
Königreich Preußen aufgezwungen hatte. In
frischer Erinnerung war überdies noch die
preußisch-russische Waffenbrüderschaft des
Winters 1806/07, zudem besaßen die preußischen
Offiziere drüben auf russischer Seite so manchen
Kameraden, mit denen sie oft noch vor kaum mehr
als einigen Monaten im gleichen Regiment gedient
hatten, bis diese dann, um nicht unter Napoleon
kämpfen zu müssen, vor Beginn des
Rußlandfeldzugs das preußische Heer verlassen
hatten und in das russische eingetreten waren -
wie etwa der nunmehr russische Oberstleutnant
Carl von CIausewitz. Doch auch dies kam vor:
Clausewitz beispielsweise, seit Anfang des
Jahres 1812 in der Armee des Zaren, hatte zwei
Brüder, die beide als Offiziere im preußischen
Hilfskorps dienten - der eine als Hauptmann, der
andere als Major.
Den Preußen gegenüber stand in und hinter Riga
eine Division unter dem Kommando des
Generalmajors von Essen. Sie gehörte zum knapp
dreißigtausend Mann starken Armeekorps des
Generals Fürst Sayn-Wittgenstein, der ein wenig
weiter östlich, an der mittleren Düna, "seinen
eigenen Krieg führte", wie es später Clausewitz
ausdrückte. Dort focht er im Verlauf des
Feldzugs wiederholt und durchaus erfolgreich
gegen die zahlenmäßig überlegenen Korps der
Marschälle Oudinot, Victor und St. Cyr, band auf
diese Weise starke feindliche Kräfte, so auch
die Armeegruppe Macdonald mitsamt ihren Preußen,
und hielt sie von der eigentlichen Offensive
Napoleons gegen Moskau fern. Außerdem deckte er
St. Petersburg.
Die Protagonisten von Tauroggen
Sayn-Wittgensteins Generalquartiermeister jedoch
war der Generalmajor Hans - russisch: Iwan
Iwanowitsch - von Diebitsch, ein gebürtiger
Schlesier, der in der königlich-preußischen
Kadettenanstalt in Berlin erzogen worden war,
und Generalstabsoffizier bei Diebitsch
schließlich war Carl von Clausewitz, der
nachmalige große Militärtheoretiker und
Verfasser des noch heute nicht überholten
Standardwerks "Vom Kriege".
Mit Yorck, Diebitsch und Clausewitz aber hat man
die Protagonisten der Konvention von Tauroggen
beisammen: dieses mutigen Unternehmens von
ungeheurer politischer und militärischer
Tragweite sowohl für die allernächste Zukunft
als auch für die folgenden sieben oder acht
Jahrzehnte und das nicht allein für Preußen und
Rußland, sondern für ganz Europa. Friedrich von
Schubert, russischer General der Infanterie,
Chef des Militärtopographischen Dienstes und
Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften,
der den Feldzug von 1812 als junger
Ordonnanzoffizier mitgemacht hatte, nannte die
Konvention von Tauroggen "das erste Beispiel in
der Geschichte, daß ein kommandierender General
den Befehlen seines Souverains entgegen ein
Abkommen mit dem Feinde schließt, seine
selbständige Politik betreibt und seinen
Monarchen zwingt, dieser Politik zu folgen . . .
- ein für Staaten höchst gefährliches, mit
nichts zu entschuldigendes Beispiel, dem man
keinen anderen Namen geben kann als den des
Hochverrats."
Im gleichen Atemzug aber fuhr Schubert fort:
"Trotz dem, was mir mein Verstand und meine
Vernunft sagten, welche die Tat Yorcks für ein
Verbrechen erklärten, konnte ich mich nicht
enthalten, sie dennoch schön zu finden und sie
ihm zu verzeihen." Carl von Clausewitz äußerte
sich über die Person des Generalmajors von Yorck
aus eigener langer Bekanntschaft folgendermaßen:
"Der General war ein Mann von einigen 50 Jahren,
ausgezeichnet durch Bravour und kriegerische
Tüchtigkeit. Er hatte in seiner Jugend in den
holländischen Kolonien gedient, sich also in der
Welt umgesehen und den Blick des Geistes
erweitert. Ein heftiger, leidenschaftlicher
Wille, den er aber in anscheinender Kälte, ein
gewaltiger Ehrgeiz, den er in beständiger
Resignation bewirkt, und ein starker, kühner
Charakter zeichnen diesen Mann aus. General
Yorck ist ein rechtschaffener Mann, aber er ist
finster, gallsüchtig und versteckt, und darum
ist er ein schlimmer Untergebener. Persönliche
Anhänglichkeit ist ihm ziemlich fremd, was er
tut, tut er seines Rufes willen und weil er von
Natur tüchtig ist. Das Schlimmste ist, daß er
bei einer Maske von Derbheit und Geradheit im
Grunde sehr versteckt ist . . . Er war
unbedenklich einer der ausgezeichnetsten Männer
unserer Armee. Scharnhorst, welcher seine hohe
Brauchbarkeit in einer Zeit, wo sich wenige
brauchbar gezeigt hatten, um so wichtiger hielt,
als sich damit eine große Abneigung gegen die
Franzosen verband, hat sich mit ihm immer auf
einem freundschaftlichen Fuß zu halten gesucht,
obgleich in Yorck immer ein unterdrücktes Gift
gegen ihn kochte. Von Zeit zu Zeit schien es
losbrechen zu wollen. Scharnhorst aber tat, als
bemerkte er es nicht, und schob ihn überall hin,
wo ein Mann seiner Art nützlich werden konnte."
Hans David Ludwig Yorck wurde am 26. September
1759 in Potsdam geboren. Nach der preußischen
Niederlage 1806 bei Jena und Auerstedt erwarb
dieser stockkonservative Preuße sich unter
Scharnhorst und Gneisenau - obwohl er keineswegs
zu den Heeresreformern zählte und er
beispielsweise den Gedanken an eine allgemeine
Volksbewaffnung, zu der es dann 1813 kommen
sollte, erbittert ablehnte - große Verdienste
bei der Reorganisation des preußischen Heeres.
Im Freiheitskrieg von 1813 kämpfte er unter
Blücher erfolgreich an der Katzbach, ermöglichte
durch ein Gefecht bei Wartenburg in der Nähe von
Merseburg Marschall Blüchers Übergang über die
Eibe und war in der Sylvesternacht von 1813
maßgeblich am Rheinübergang von Kaub beteiligt.
Nach dem Krieg wurde er zum General der
Infanterie befördert, erhielt das
Generalkommando in Schlesien und wurde unter
Beilegung des Namens "von Wartenburg" in den
Grafenstand erhoben. 1821 zum Feldmarschall
ernannt, starb Ludwig Graf Yorck von Wartenburg
am 4. Oktober 1830 auf seinem Gut Klein-Oels bei
Breslau.
Als fähigen Truppenführer und tapferen Soldaten,
aber ebenso als schroffen und schwierigen
Charakter haben nicht wenige Zeitgenossen Yorck
geschildert. Ein freundlicheres Charakterbild
hingegen entwarf Clausewitz von dem russischen
Generalmajor von Diebitsch: "Von Geburt Preuße,
war Diebitsch schon als junger Mensch von dem
preußischen Kadettenhause in den russischen
Dienst gekommen und durch die Karriere bei der
Garde und im Generalstab schnell bis zum
Obersten gestiegen, so daß er im Laufe des
Feldzugs von 1812 schon in seinem 27. Jahre
General wurde. . . Er war von Jugend auf fleißig
gewesen und hatte für sein Fach gute Kenntnisse
erworben. Feurig, brav und unternehmend, von
raschem Entschluß, großer Festigkeit, etwas
dreist und herrisch, die anderen mit sich
fortreißend, dabei sehr ehrgeizig - so war der
General Diebitsch . . ." Außerdem rühmte
Clausewitz Diebitschs "edles Herz" und nennt ihn
"offen und redlich, ohne die Spur der Intrige".
Geboren wurde Hans Carl Friedrich von Diebitsch
am 13. Mai 1785 als Sohn des späteren russischen
Generalmajors Hans Carl Ehrenfried von Diebitsch
und seiner Ehefrau Marie Antoinette von Erkert
in Großleipe in Schlesien. Erzogen wurde er, wie
schon erwähnt, in der preußischen
Kadettenanstalt in Berlin bis zu seinem 16.
Lebensjahr. 1801 verließ er die Anstalt und trat
als Fähnrich in das russische Garderegiment
Samonowsky ein. 1805, inzwischen Leutnant, zog
er mit dem Regiment ins Feld und kämpfte gegen
die Franzosen in der Schlacht von Austerlitz, in
der er verwundet wurde. Als nach der preußischen
Unglücksschlacht von Jena und Auerstedt die
Russen den Preußen im Spätherbst zu Hilfe
kommen, ist auch Diebitschs Regiment wieder
dabei und kämpft bei Guttstadt, Heilsberg und
Friedland, wo er sich als Hauptmann durch
besondere Tapferkeit auszeichnete und den
russischen Georgs- und den Wladimirorden sowie
den preußischen Orden Pour le mérite erhielt.
Das Jahr 1810 sah den erst
Fünfundzwanzigjährigen bereits als
Oberstleutnant.
Im September 1811 wurde er Oberst und bei
Ausbruch des napoleonischen Rußlandfeldzugs zum
Generalmajor und Quartiermeister im Stab
Sayn-Wittgensteins ernannt. Im Oktober 1812
übernahm er die Vorhut des
Sayn-Wittgensteinschen Armeekorps, einer aus
Kavallerie- und Kosakeneinheiten bestehenden
Truppe von nur vierzehnhundert Mann, mit der er
später die Rückzugsbewegungen der Armeegruppe
Macdonald beobachtete. Im weiteren Verlauf des
Krieges gegen Napoleon zog er an der Seite des
Feldmarschalls Sayn-Wittgenstein in Berlin ein,
nahm an der Schlacht von Möckern teil und
verdiente sich auf dem Schlachtfeld von Leipzig
die Beförderung zum Generalleutnant. Zweimal zog
er mit den russischen Truppen in Paris ein; 1814
und nach Napoleons Rückkehr von Elba nochmals
1815. Nach dem Krieg wurde er Chef des
Generalstabes der 1. Armee in Mohilew am Dnjepr,
begleitete jedoch Zar Alexander I. auf
zahlreichen Reisen im In- und Ausland. Als der
Zar 1825 in Taganrog starb, ernannte ihn sein
Nachfolger, Zar Nikolaus, bei seiner Krönung in
Moskau zum General der Infanterie. 1825 wurde
Hans von Diebitsch in den Grafenstand erhoben.
In der Folgezeit kämpfte er in dem 1828
ausgebrochenen russisch-türkischen Krieg als
Oberbefehlshaber der 1. Armee auf dem Balkan,
schlug die Türken bei Silistria und nahm
Silistria und kurz darauf Adrianopel ein. Am 22.
September 1828 wurde er zum Feldmarschall
ernannt. Seinem Namen durfte er bald den
Ehrennamen "Sabalkansky" - Überwinder des
Balkans - beifügen, so daß er sich nun Graf von
Diebitsch-Sabalkansky nennen konnte. 1831
kämpfte er gegen die polnischen Aufständischen
bei Ostrolenka, erkrankte jedoch an der Cholera
und starb in Kleczewo am 28. Mai 1831. Seine
Leiche wurde zu Schiff nach St. Petersburg
gebracht und dort auf dem Wolkowo-Friedhof
beigesetzt. Bis 1917 gab es in der russischen
Armee ein Infanterieregiment, das zu seinem
Andenken "Regiment Graf Diebitsch-Sabalkansky"
hieß. Verheiratet war Iwan Iwanowitsch von
Diebitsch mit einer Baronesse von Tornan, einer
Nichte des russischen Feldmarschalls Barclay de
Tolly.
Und nun der dritte Protagonist der Konvention
von Tauroggen, die als Schlußpunkt des
mißglückten napoleonischen Rußlandfeldzugs eine
neue, nachnapoleonische Zeit einläutete und das
Gesicht und den politischen Kurs Europas in den
folgenden Jahrzehnten bestimmte. Von Carl von
Clausewitz ist die Rede.
Er stammte aus einer Familie, die in Sachsen, im
benachbarten Thüringen und vermutlich auch in
Schlesien beheimatet war und vorwiegend Pastoren
und Theologieprofessoren hervorgebracht hatte.
Erst sein Vater wurde Offizier, und zwar im Heer
Friedrichs des Großen; zu einem bedeutenden Rang
brachte er es indessen nicht, lediglich zum
Hauptmann, schied jedoch bereits am Ende des
Siebenjährigen Krieges aus gesundheitlichen
Gründen aus und erhielt eine Stelle als
Steuer-Einnehmer in Burg bei Magdeburg. Seine
Söhne schickte er in die preußische Armee. Der
am 1. Juni 1780 geborene Carl beispielsweise war
schon 1793 mit erst 13 Jahren als Fahnenjunker
bei der Belagerung von Mainz dabei. Mit 15 wurde
er Leutnant; später sollte er sagen: "Ich bin in
der preußischen Armee aufgewachsen." In den elf
Friedensjahren bis 1806, die dem 1795 mit dem
Basler Frieden endenden Koalitionskrieg gegen
das revolutionäre Frankreich folgten, stieg Carl
von Clausewitz bis zum Stabskapitän auf.
Anfänglich lag er in Neuruppin in Garnison, bald
jedoch wurde er zur Allgemeinen Kriegsschule -
der preußischen Militärakademie - in Berlin
versetzt, wo er Lieblingsschüler des
Heeresreformers Scharnhorst und bald darauf
Adjutant des Prinzen August von Preußen wurde.
In dieser Zeit lernte er die Hofdame Marie
Gräfin Brühl kennen, seine zukünftige Frau. "Es
wird eine vorbildliche Ehe", schreibt Wilhelm
Ritter von Schramm, "freilich kinderlos, aber
mit einer solchen Teilnahme der Gattin an den
Arbeiten des Kriegsphilosophen, daß Marie von
Clausewitz in der Lage ist, später das Werk 'Vom
Kriege' herauszugeben - gewiß ein einzigartiger
Fall in der Militärgeschichte ."
1806 geriet Clausewitz gemeinsam mit dem Prinzen
August von Preußen in französische
Kriegsgefangenschaft. Auf der Heimreise von
Frankreich im folgenden Jahr begleitete er den
Prinzen auf dessen Umweg über Schloß Coppet am
Genfer See, wo beide Gäste Madame de Staels
waren, die gerade an "De l' Allemagne" arbeitete
und Prinz August sich unglücklich in einen
anderen Gast verliebte, in die schöne Julie
Recamier. 1809 wurde Clausewitz Major im
Generalstab und unter Beibehaltung seiner
Stellung als Bürochef Scharnhorsts - des
damaligen Generalstabschefs und Inspekteurs des
Festungswesens - Lehrer an der Kriegsakademie.
Nach dem Abschluß des Zwangsbündnisses Preußens
mit Napoleon jedoch verließ Clausewitz die
preußische Armee und begab sich "mit einigen
Empfehlungsschreiben versehen nach Wilna, wo
sich das Hauptquartier des Kaisers Alexander
befand". Als Oberstleutnant mit einem Jahressold
von 1900 Talern trat er in die russische Armee
ein, wo er dem Generalmajor von Diebitsch
attachiert wurde. Im Jahre 1815 trat er als
Oberst wieder unter preußische Fahnen und wurde
nach dem Krieg Chef des Generalstabs des III.
Korps in Koblenz. Bald darauf berief man ihn,
inzwischen Generalmajor, als Direktor an die
Berliner Kriegsakademie. "In den folgenden
Jahren konnte", so wieder Ritter von Schramm,
"das Werk heranreifen, das den Krieg politisch
fixiert und mit dem Licht der philosophischen
Vernunft und der Menschenkenntnis tief in sein
Wesen hineinleuchtet. Viele Teile davon sind im
stillen Wohnzimmer der Frau von Clausewitz
geschrieben. So war sie dann auch in der Lage .
. ., das freilich noch unvollendete Werk der
Öffentlichkeit zu übergeben."
Im Jahr 1830 wurde Clausewitz aus Berlin
abkommandiert und zur 2. Artillerieinspektion
nach Breslau versetzt, doch nur für kurze Zeit,
denn noch im gleichen Jahr holte sich ihn nach
Ausbruch des polnischen Aufstandes Feldmarschall
Graf Gneisenau als Chef des Stabes zu der von
ihm kommandierten Observationsarmee an der
preußisch-russischen Grenze. Aber als am 23.
August 1831 Feldmarschall Gneisenau in Posen an
der Cholera starb, kein Vierteljahr nach dem
jenseits der Grenze Feldmarschall Diebitsch der
Cholera erlegen war, kehrte Clausewitz am 7.
November nach Breslau zurück, wo er freilich
schon am 16. November starb - ebenfalls an der
Cholera.
Psychologische Kriegführung
Während des napoleonischen Rußlandfeldzugs hatte
es russischerseits schon frühzeitig Versuche
gegeben, "die Deutschen", womit in Erinnerung an
die antinapoleonische Waffenbrüderschaft von
1806/07 vornehmlich die Preußen gemeint waren,
dem Kaiser der Franzosen abspenstig zu machen.
Ganz im Stil moderner psychologischer
Kriegführung wandte sich Marschall Barclay de
Tolly bereits am 4. Juli 1812, nur zehn Tage
nach Feldzugsbeginn, mit folgendem Aufruf an
sie:
"Deutsche! Vergessen auch viele aus euren oberen
Ständen ihre Pflichten gegen ihr Vaterland, so
ist doch die Mehrheit eures Volkes bieder,
tapfer und des Druckes der Tyrannei überdrüssig.
Seid Gott und dem Vaterlande treu, folgt dem Ruf
des Vaterlandes und der Ehre, genießt die
Belohnung eures Mutes und eurer Aufopferung und
schüttelt die Fesseln des korsischen Tyrannen ab
- oder beugt euch auch fürderhin unter das Joch
der Unterdrückung, das auf euch lastet. Dann
aber werdet ihr untergehen in Schande, Elend und
Erniedrigung, und der Spott der Menschheit und
der Fluch eurer Nachkommen wird auf euch ruhen!"
Auch in den folgenden Wochen und Monaten ließ es
die russische Führung nicht an Aufforderungen an
Yorck fehlen, "von der französischen Sache
abzufallen". Diese Aufforderungen liefen auf ein
Neutralitätsabkommen hinaus, stießen freilich
bei Yorck einstweilen noch auf taube Ohren,
zumal sich wie die gesamte Armeegruppe Macdonald
auch das preußische Hilfskorps in hervorragendem
Zustand befand, nur vergleichsweise geringe
Ausfälle zu beklagen hatte und selbst noch im
Dezember 1812 knapp 18000 Mann zählte - eine
Verlustquote von nur ungefähr zehn Prozent. Erst
als im Mitauer Hauptquartier die Kunde vom Brand
Moskaus und der Flucht der Grande Armee sich
zuerst nur als Gerücht, bald jedoch als
verbürgte Nachricht verbreitete, und vollends
als am 10. Dezember die unbezweifelbare Kunde
von der Flucht Napoleons und dem Untergang
seiner Armee eintraf, sah Yorck, wie dringend
nun die Notwendigkeit war, zu handeln und seine
Preußen vor einem ähnlichen Schicksal zu
bewahren. Doch bereits am 26. November hatte
Yorck auf ein neuerliches russisches
Neutralitätsangebot hin an Sayn-Wittgenstein
geschrieben, er sei von Kind an Soldat gewesen
und mit den "Verschlingungen der Politik"
unvertraut. Weiter schrieb er, daß "bei so
großen Veränderungen die Schritte der Armee mit
der inneren Politik in Übereinstimmung gebracht
werden müssen". Im Klartext: Yorck wünschte
zuerst zu ergründen, wie sein König über ein
Neutralitätsabkommen des preußischen Korps mit
den Russen denke. Deshalb schickte er seinen
Adjutanten, einen Major von Seydlitz, nach
Berlin, der jedoch mit leeren Händen
zurückkehrte. Denn weder vom König noch aus
seiner engsten Umgebung war eine Stellungnahme
zu erhalten gewesen. Friedrich Wilhelm III.
zögerte wie immer, wenn klare Entscheidungen
nötig waren. Das hinderte ihn freilich
andererseits nicht, Yorck bis an sein Lebensende
die "Eigenmächtigkeit von Tauroggen" persönlich
nachzutragen. Yorck dagegen ertrug das mit einem
Achselzucken.
Auf dem Weg nach Tauroggen
Dann aber brach am 19. Dezember Macdonald mit
seinen Franzosen in zwei Kolonnen zum Rückzug
auf und räumte Kurland. Yorck folgte am nächsten
Tag mit seinen Preußen und blieb auch in der
Folgezeit ein bis zwei Tagesmärsche hinter
Macdonald zurück. Sogleich aber hatte sich
General von Diebitsch mit der Vorhut der
Sayn-Wittgensteinschen Armee an Yorcks Fersen
geheftet. Diese lediglich 1400 Mann starke und
von Diebitsch persönlich geführte Truppe - mehr
Beobachtungsabteilung als Vorhut - bestand aus
Teilen des Regiments Grodno-Husaren, drei
Kosaken-Sotnien, einer kaum noch
Schwadronsstärke besitzenden Abteilung reitender
Jäger sowie einer reitenden Batterie von sechs
Geschützen.
Der Rückzug ging in südwestlicher Richtung über
Mitau, Schaulen, Koltinjani und Stulgi zum
Njemen und zur preußischen Grenze - es war
nahezu derselbe Weg wie auf dem Vormarsch im
Sommer. Carl von Clausewitz, der sich an der
Seite Diebitschs befand, schrieb in seinem schon
erwähnten Buch über den russischen Feldzug von
1812: "Der Marsch war ziemlich schnell, denn die
beiden ersten Kolonnen, welche den 19. Dezember
aufgebrochen waren, erreichten Piktupöhnen (an
der russisch-polnischen Grenze), welches 30
Meilen von Mitau ist, in acht Tagen. Unter
diesen Umständen kam General Yorck, der erst den
20. abends von Mitau abmarschierte und ein
großes Fuhrwesen mit sich führte, zwei
Tagesmärsche von Marschall Macdonald ab. Er
erreichte nämlich erst den 25. abends die Gegend
von Koltinjani, an diesem Tag aber war der
Marschall schon sechs Meilen davon . . ."
Am 24. Dezember schickte Diebitsch einen
Parlamentär zu Yorck, und am Abend des 25. - dem
Weihnachtstag - kam es zur ersten Begegnung der
beiden Generale. Sie fand sechs Meilen von
Koltinjani auf der Straße nach Tilsit "zwischen
den Vorposten" statt. In einer
unveröffentlichten handschriftlichen
Aufzeichnung im Diebitschschen Familienarchiv
heißt es in weitgehender Übereinstimmung mit dem
erwähnten Buch von Clausewitz über diese
Begegnung:
"Am Weihnachtstage spät abends trafen Yorck und
Diebitsch zum ersten Mal zwischen den Vorposten
zusammen. Diebitsch hatte seine Truppen so
verdeckt als möglich aufgestellt, aber er war
edel genug zu sagen, was er an Truppen habe und
nicht habe; er erklärte Yorck, daß er nicht
daran denken könne, den Weg wirklich zu sperren,
daß er allerdings alles Mögliche tun werde, ihm
seinen Train, seine Artilleriefahrzeuge und
vielleicht einen großen Teil seiner Artillerie
abzunehmen. Es war natürlich, daß diese
Bemerkungen nicht entscheidend sein konnten. Der
Hauptgegenstand der Unterredung war vielmehr die
gänzliche Vernichtung der Grande Armee, und daß
die russischen Generale angewiesen seien, bei
vorkommenden Fällen die Preußen nicht wie
eigentliche Feinde zu behandeln, sondern in
Rücksicht auf die früheren freundschaftlichen
Beziehungen beider Mächte und die
Wahrscheinlichkeit, daß dieselben nun bald
erneuert werden würden, mit ihnen jedes
freundschaftliche Abkommen zu treffen, welches
dieselben wünschen könnten. Diebitsch erklärte
demgemäß, daß er bereit sei, mit General Yorck
einen Neutralitätsvertrag einzugehen und zu dem
Behufe die militärischen Vorteile, welche er
über ihn habe, aufzugeben."
Yorck machte sich seine Entscheidung nicht
leicht. Das preußische Hilfskorps aus dem
Untergang der Grande Armee, der sich bereits
vollzogen hatte, herauszuhalten und durch eine
Übereinkunft mit dem russischen Gegner
Möglichkeiten für einen künftigen politischen
Frontwechsel vorzubereiten, war die eine Sache -
die andere hingegen war: Ohne Zustimmung des
Königs im Krieg ein Abkommen mit dem Feind zu
schließen, eine selbständige Politik zu
betreiben, den König vor vollendete Tatsachen zu
stellen und ihn zu zwingen, dieser Politik zu
folgen . . . Vermutlich war es Clausewitz, der
in mehreren Unterredungen Yorck eine andere
Betrachtungsweise darlegte: Es gehe nicht um ein
Waffenbündnis mit den Russen auf eigene Faust,
was einer Meuterei gleichgekommen wäre, es gehe
vielmehr allein um die Neutralität der
preußischen Truppen, und im übrigen läge alles
Spätere im Ermessen des Königs von Preußen und
des Zaren von Rußland.
In diesem Sinne wurde endlich auch der Text der
Konvention abgefaßt, und in diesem Sinne schrieb
Yorck nach Abschluß der Konvention auch an
seinen König, wobei er betont, daß er nach Lage
der Dinge gezwungen gewesen sei, "mit dem
General-Major von Diebitsch im Dienste S. M. des
Kaisers Alexander die Convention abzuschließen,
die ich anliegend Ew. M. zu Füßen zu legen die
Ehre habe. In der vollen Überzeugung, daß ich
bei dem Fortmarschieren die Existenz des
Armee-Corps aufs Spiel gesetzt und den Verlust
seiner Artillerie und seines Gepäcks
herbeigeführt hätte, wie die Erfahrung es bei
der Großen Armee gezeigt hat, glaubte ich als
treuer Untertan E. M. nur Ihren Vorteil zu Rate
ziehen zu dürfen ohne Rücksicht auf den Ihres
Alliierten . . . Ew. Maj. lege ich willig meinen
Kopf zu Füßen, wenn Sie mein Handeln tadelnswert
finden sollten. Ich werde dennoch in dem letzten
Augenblick die süße Gewißheit haben zu denken,
daß ich als treuer Untertan sterbe, als wahrer
Preuße, als ein Mann endlich, der nur das Beste
des Vaterlandes wollte."
Dem Marschall Macdonald jedoch teilte er
ebenfalls nach Abschluß der Konvention mit: "Die
preußischen Truppen werden ein neutrales Corps
bilden und sich keine Feindseligkeiten gegen
eine der beiden Parteien erlauben. Die kommenden
Ereignisse, welche durch die Unterhandlungen
zwischen den kriegführenden Mächten
herbeigeführt werden dürften, werden ihr
ferneres Schicksal bestimmen."
In den folgenden Tagen nach dem ersten
Zusammentreffen zwischen Yorck und Diebitsch am
Weihnachtsabend auf der Heerstraße nach Tilsit
hatte es zwischen den russisch-preußischen
Linien, falls man überhaupt von "Linien"
sprechen kann, denn der Marsch ging ja weiter,
ein reges Hinundher gegeben. Carl von
Clausewitz, der als Preuße Yorcks besonderes
Vertrauen genoß, führte die meisten
Verhandlungen, er entwarf auch den Text der
Konvention, der freilich verschiedentlich
geändert, umgeschrieben und präzisiert wurde,
weil Yorck immer wieder neue Einwände
vorbrachte. Endlich, am 29. Dezember, reichte er
nach einem erneuten langen Gespräch mit
Clausewitz diesem die Hand und sagte: "Ihr habt
mich. Sagt dem General Diebitsch, daß wir uns
morgen früh auf der Mühle von Poscherun sprechen
wollen, und daß ich jetzt bereit bin, mich von
den Franzosen und ihrer Sache zu trennen."
Clausewitz eilte daraufhin "ganz beglückt" zu
Diebitsch nach Wilkischken zurück.
Die Konvention von Tauroggen
Der nächste Tag war ein Mittwoch, 30. Dezember
1812. Das Treffen sollte morgens um acht Uhr
stattfinden. Clausewitz führt in seinem Buch nur
an, daß Yorck in der Poscheruner Mühle mit
seinem Chef des Stabes Oberst von Roeder und
seinem Adjutanten Major von Seydlitz erschien,
während Diebitsch von Clausewitz und dem
ebenfalls aus Preußen stammenden
Ordonnanzoffizier Graf Friedrich von Dohna
begleitet wurde, "so daß sich bei dieser
Verhandlung lauter geborene Preußen befanden".
Den Verlauf der historischen Zusammenkunft
dagegen schildert er nicht. Das geschieht jedoch
in den Diebitschschen Familienpapieren: "Am
Morgen war Diebitsch von Clausewitz und Dohna
begleitet wie verabredet in der Poscheruner
Mühle, Yorck nicht . . . Mehr als eine Stunde
hatte man gewartet, da endlich kam Yorck, von
Roeder und Seydlitz begleitet, sehr gemessen und
kalt. In gespannter Stimmung verhandelte man die
Artikel, die Seydlitz niederschrieb, nicht ohne
scharfe Differenzen bei einzelnen Punkten . . .
Doch endlich war die Konvention fertig, ins
Reine geschrieben und unterzeichnet. Eine
Umarmung der Generale schloß die Szene."
Von Malern ist diese Szene häufig wiedergegeben
worden: Vor einem groben Tisch stehen die beiden
Generale und reichen sich fest die Hand. Im
Hintergrund sieht man Mahlwerke und
Mühlengebälk, während auf dem Tisch eine
Schreibfeder und ein Schriftstück liegen - der
Vertrag, der zwar in der Poscheruner Mühle
geschlossen wurde, aber als Konvention von
Tauroggen in die Geschichte einging. Poscherun
war ein winziges Nest in einer ebenen Landschaft
mit Birken und Kopfweiden, nahe dem Njemen,
wogegen einen Katzensprung weiter im Nordosten
Tauroggen lag, ein litauisches Landstädtchen mit
dazumal knapp zweitausend Einwohnern.
Die Konvention von Tauroggen besteht aus nur
sieben kurzen Artikeln und liest sich eher wie
ein Freundschaftsvertrag als ein Abkommen
zwischen zwei kriegführenden Parteien. Ein
günstigerer Vertrag ist von einer stärkeren
einer schwächeren Seite nur selten zugebilligt
worden. Die wichtigsten sind die Artikel I und
II.
Der Artikel I, nach dem sich die Preußen
unbehelligt auf ostpreußisches Gebiet
zurückziehen konnten, lautet: "Das preußische
Korps besetzt den Landstrich innerhalb des
königlichen Territoriums längs der Grenze von
Memel und Nimmersatt bis zu dem Weg von Woinuta
nach Tilsit; von Tilsit macht ferner die Straße
über Schillupischken und Melauken nach Labiau,
die Städte dieser Straße eingeschlossen, die
Grenze desjenigen Territoriums, welches dem
Korps hierdurch eingeräumt (wird). Das Kurische
Haff schließt an der anderen Seite dieses
Territorium, welches während der preußischen
Besetzung als völlig neutral erklärt und
betrachtet wird . . ."
Der Artikel II besagt: "In diesem in
vorstehendem Artikel bezeichneten Landstrich
bleibt das preußische Korps bis zu den
eingehenden Befehlen Sr. Majestät des Königs von
Preußen neutral stehen, verpflichtet sich aber,
wenn Se. Majestät den Zurückmarsch des Korps zur
französischen Armee befehlen sollten, während
eines Zeitraums von zwei Monaten, vom heutigen
Tage an gerechnet, nicht gegen die
kaiserlich-russische Armee zu dienen."
Diesen Befehl erteilte der König freilich nie.
Die Geschichte nahm ihren Lauf, wie Yorck und
Diebitsch es erhofft hatten: 1813 brach der
Freiheitskrieg aus und preußische, russische und
österreichische Heere beendeten die
napoleonische Herrschaft. Die Konvention von
Tauroggen aber leitete eine lange Phase
preußisch-russischer Freundschaft ein, die erst
1890 mit der Kündigung des von Bismarck
geschlossenen Rückversicherungsvertrags endete.
In den Jahrzehnten zuvor war Preußen-Deutschland
zur europäischen Großmacht aufgestiegen, doch
hätte es ohne das wohlwollend neutrale Rußland
im Rücken weder die siegreichen Kriege von 1864
und 1866 und schon gar nicht den
Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 führen
können, an dessen Ende die Gründung des
Deutschen Reiches stand.
Der Abstieg begann sodann mit der Aufkündigung
jenes Rückversicherungsvertrages im Jahr 1890.
Den Weg bergab markierten schon bald der Erste
und der Zweite Weltkrieg, in denen Rußland
beziehungsweise die Sowjetunion zu Deutschlands
Gegnern zählte. Am Ende stand die Teilung des
Deutschen Reiches in zwei Staaten
unterschiedlicher Gesellschaftsordnung. Zwar
hatte man nach 1945 sowjetischerseits aus
freilich höchst durchsichtigen Motiven versucht,
durch Beschwörung des "Geistes von Tauroggen"
die alte deutsch-russische Freundschaft
wiederzubeleben, aber die Zeit, die
gesellschaftlichen Verhältnisse und die
politischen Umstände waren ganz andere geworden.
Der Geist von Tauroggen war erloschen. Geblieben
ist dagegen das Beispiel, das Hans David Ludwig
von Yorck allen Soldaten zu jeder Zeit gab - daß
der Offizier Mut zu selbständigem Handeln zu
zeigen hat, wenn eine entscheidende Stunde
kommt. Ein solches Beispiel veraltet nie - im
Zeitalter der weltvernichtenden Atomwaffen
weniger denn je.
Günther Elbin
LITERATURHINWEISE:
Droysen, J. G.: Das Leben des Feldmarschalls
Graf Yorck von Wartenburg. 1913. 11. Aufl.
Elze, W.: Der Streit um Tauroggen. 1926.
Schramm, W. von: Clausewitz. Leben und Werk.
1976.
Günther Elbin,
Jahrgang 1924, hat sich durch seine Tätigkeit am
Rundfunk und als Mitarbeiter mehrerer
Zeitschriften einen Namen gemacht, wobei er vor
allem historische und kunsthistorische Themen
behandelt. Er veröffentlichte u. a. die Bücher
"Literat und Feldmarschall" - Briefe und
Erinnerungen des Fürsten Charles Joseph de Ligne,
1735-1814" (1979), "Am Niederrhein" (1979).
Quelle:
DAMALS - Das Geschichtsmagazin
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